Fahlmann. Christopher Ecker
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Heinz dürfte damals einundfünfzig oder zweiundfünfzig gewesen sein, benahm sich aber nicht, wie man es von einem Mann im gesetzten Alter erwartet. Es war ein Riesenspaß, mit ihm den Leichenwagen zu fahren, ein entlastender Ausgleich zu jeglicher intellektueller Tätigkeit, ein Ausgleich, den ich in diesem Sommer bitter nötig hatte. Stets eine Filterlose im Mundwinkel kurbelte er das Fenster runter, wenn wir an Ampeln hielten, und schlug älteren Damen im öligen Tonfall eines Jahrmarkt-Anreißers eine Spritztour um den Block vor. Manchmal brüllte er auch Sachen wie: «Ich komm dich holen!» und griff mit behaarter Pranke nach einem Fußgänger, doch zu solchen Entgleisungen kam es erst, wenn die zahllosen Abstecher ihre Wirkung zeigten, die uns zu Kiosken mit Namen wie Bierhalle oder Sonjas Hähnchen Grill geführt hatten oder zu diesen in Getränkehandlungen mit Stehausschank umfunktionierten Garagen, wo Heinz jeden mit Vornamen anredete. Nach einem Tag mit mehreren dieser «Päuschen» konnte es vorkommen, dass er Susanne fröhliche Obszönitäten zurief, was diese mit schiefem Grinsen quittierte; dennoch mochte sie Heinz, er hatte (es ist mir peinlich, es hinzuschreiben, aber ich tue es trotzdem) ein großes Herz, und – was ich besonders an ihm schätzte – einen zwar derben, aber nie verletzenden Humor.
Als Kind ließ ich mir von Onkel Jörg, der, wenn ich es mir recht überlege, kaum älter als Heinz war (beziehungsweise, wenn er noch lebt: ist), gerne erzählen, wie Heinz einmal mithalf, das Zelt aufzubauen, als der Zirkus Maximilanowitsch Borasi in der Vorstadt gastierte. «Und da kommt so ein Wicht von Hypnotiseur und sagt: ‹Hört mal zu, Jungs! Ich brauch heut Abend drei Mann! Jeder kriegt seine zehn Märker.› Heinz ist sofort dabei, denn das Geld ist schnell verdient: Er hat nichts weiter zu tun, als ‹Gra? Gra? Gra?› zu sagen, wenn er nach seinem Namen gefragt wird.» Während der abendlichen Vorstellung wedelt der Hypnotiseur mit den weiten Ärmeln seines bestickten Kaftans vor den Gesichtern der «Freiwilligen» herum – ich stelle ihn mir gerne als beleibten Sultan mit edelsteingeschmücktem Turban und gezwirbeltem Schnurrbart vor – und murmelt seine Beschwörungen: «Durch die Macht meiner Magie werdet ihr kleinen Menschlein eure erbärmlichen Namen vergessen!» Er wendet sich an den ersten Freiwilligen. «Wie heißt Du?» – «Gra?» Er wendet sich an den zweiten. «Wie heißt du?» – «Gra? Gra?» Er wendet sich an den dritten. «Und wie heißt du?» – «Heinz Brenner!», brüllt Heinz so laut, dass ihm die Adern am Hals schwellen. «Ich heiße Heinz Brenner!» Und man hört ihn noch seinen Namen krakeelen, nachdem ihn der Dompteur, der Kraftmensch und der dumme August aus der Manege getragen haben. Natürlich stimmt diese Geschichte nicht, sie ist mir später in zahllosen Varianten über den Weg gelaufen, aber irgendwie stimmt sie doch, denn so war Heinz, und Abend für Abend bestieg er nach einem Schnäpschen mit Onkel Jörg die Vespa, um sich von ihr nach Hause bringen zu lassen. «Sie kennt den Weg», grinste er, eine Zigarette im Mundwinkel – manchmal glaube ich, dass ich ihn mehr vermisse als alle anderen.
Damit jetzt kein falscher Eindruck entsteht: Die Arbeit für Onkel Jörgs Beerdigungsinstitut hatte auch ihre unangenehmen Seiten. Vor allem, wenn wir bei Autounfällen den Notsarg einsetzen mussten, eine zusammenklappbare Zinkwanne, die an der rechten Innenwand des Transits befestigt war. Die Angehörigen stehen rum, sind zu geschockt, um zu begreifen, dass dieser Klumpen Fleisch und Blut, aus dem gesplitterte Knochen ragen, ihr Bruder oder ihre Mutter war, und betrachten uns voller Hass, als wären wir die Gehilfen des Sensenmanns. Dabei sind wir vielmehr eine Art Müllabfuhr des Todes: Wir streuen Sand, um das Blut auf dem Asphalt zu binden, kehren die gröbste Schweinerei zusammen, und ab damit in die Zinkwanne. Später steht dann am Straßenrand ein Holzkreuz oder eine rote Grablaterne oder, wie in jenem Fall, an den ich mich jetzt deutlich erinnere, das mit einem Kranz umwundene Rad eines Fahrrads. Ich fuhr ein paar Tage nach dem Unfall mit Susanne an dem geschmückten Rad vorbei (wohin wir unterwegs waren, weiß ich nicht mehr; bestimmt hatten wir uns von Onkel Jörg den Transit geliehen, um Getränke einzukaufen) und sagte stolz: «Den haben wir mit diesem Auto abgeholt.» – «Verschon mich mit deiner Arbeit!» – «Der hat hinten im Auto drin gelegen.» – «Georg!» – «Hat immer so geröchelt», ich gab gurgelnde Geräusche von mir, «und von innen an die Zinkwanne geklopft, weil er raus wollte. Erst haben wir gedacht, es würde was am Auto klappern. ‹Was klappert denn da?›, fragt mich Heinz, und ich sage: ‹Das ist doch eher ein Blubbern!›» – «Georg!», zischte Susanne. Ich fuhr schweigend weiter. Nach einer Weile fing ich an, mit Fistelstimme «Hilfe! Hilfe!» zu rufen und dabei ganz leicht mit dem Knöchel an die Seitenscheibe zu pochen. «Hilfe! Hilfe!», piepste ich. «Lasst mich bitte raus! Hilfe!» Gleich, wusste ich, würde Susanne mit diesem lächerlichen Gesichtsausdruck zu schreien beginnen, bei dem ich nicht ernst bleiben könnte. «Macht dir deine Arbeit nichts aus?», hatte mich Winkler mal gefragt. «Nein», sagte ich, «ich bin damit groß geworden. Wir haben im Sarglager Verstecken gespielt. Aber manchmal schafft es schon.» Ich überlegte, was und wie viel ich ihm anvertrauen durfte, und ergänzte vorsichtig: «Junge hübsche Frauen zum Beispiel.» – «Und hast du nie?» – «Nie! Ich bitte dich!» Natürlich hatte ich. Aber das war eine kalte, traurige Sache, nichts worüber man reden sollte. Und schon gar nicht mit jemandem wie Winkler.
Bevor ich mit dem Schreiben begann oder mich wieder hinlegte, weil mir schlecht wurde, wenn ich ans Schreiben dachte, bedauerte ich regelmäßig Jens. In der Schule zwang man ihn zum Stillsitzen, zum Aufmerken und zum Kopfrechnen. Man erzählte ihm jede Menge Unsinn vom lieben Gott und der Wichtigkeit des Arbeitens, nötigte ihn dazu, im Kanon Hoch auf dem gelben Wagen zu singen, las ihm hanebüchenen Unfug vor: Der süße Brei (Gebr. Grimm), Der kleine lustige Hase (Gebr. Dumm) – und aus welchem Grund glauben Erwachsene eigentlich, man müsste Kindern alles über St. Martin erzählen? «Warum hat er dem Bettler nicht den ganzen Mantel gegeben?», hatte Jens einmal wissen wollen, und seine Lehrerin ermahnte ihn, ernst zu bleiben und zukünftig freche Zwischenbemerkungen zu unterlassen. «Ich halte das durchaus für einen berechtigten Einwand», tröstete ich ihn, aber die moralische Unterstützung seines Vaters half Jens in der Schule denkbar wenig.
Als ich die vierte Klasse besuchte, hatte meine Lehrerin, die wir «Fräulein» nannten, obwohl sie schon zum zweiten Mal verheiratet war, eine Nikolaus-Tombola veranstaltet. Fräulein Gilbeck heftete Schönschrift-Zahlen an die Päckchen, arrangierte sie auf dem Pult, und dann musste jeder eine Nummer aus ihrer gefütterten, muffig riechenden Wintermütze ziehen. Das Geschenk, das ich zur Tombola beisteuerte, war ein Dreierpack, bestehend aus einem Bleistift, einem Bleistiftspitzer und einem Radiergummi, ganz wie es Fräulein Gilbeck vorgeschlagen hatte, als Andreas sie fragte, wie teuer das Nikolausgeschenk denn sein müsse. «Wir kaufen nur kleine Sachen.» Fräulein Gilbeck lispelte leicht und sprach stets in diesem geduldigen, nachsichtigen Tonfall, den ich als Erwachsener nur dann anschlug, wenn ich Susanne zur Weißglut bringen wollte. «Wir», fuhr Fräulein Gilbeck in einer Munterkeit fort, die sie für ansteckend hielt, «schenken uns alle etwas Nützliches.» – «Was ist denn etwas Nützliches?», fragte Andreas, und Fräulein Gilbeck antwortete prompt: «Ein Bleistift, ein Bleistiftanspitzer und ein Radiergummi zum Beispiel.» In meiner kindlichen Ehrfurcht vor Autoritäten ließ ich Mutter tatsächlich besagte Schreibwaren kaufen und in das Weihnachtspapier mit den fetten Engeln und verblichenen Kometen einwickeln, das vom Vorjahr übriggeblieben war. Natürlich versuchten wir am Tag der Verlosung rauszukriegen, welche Gewinnmöglichkeiten sich uns boten. Als absolutes und ungeschlagenes Hitgeschenk stellte sich ein Lustiges Taschenbuch heraus, und wir alle hätten selbstverständlich lieber Fantomias schlägt zurück gewonnen als eine Packung Lego (von Michael) oder das Pferdebuch mit den Lesespuren am Rücken (von Karin) oder gar den Bleistift, den Spitzer und den Radiergummi.
Hinter mir, in der nur halberinnerten Küche, in der sich mein erinnertes Ich an seine Kindheit zurückerinnert, weil ich will, dass es sich genau jetzt daran erinnert, begann der Wasserkessel zu pfeifen, erst zaghaft, dann mit