Fahlmann. Christopher Ecker

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Fahlmann - Christopher Ecker

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in den Hof einbog; in meiner Nachttischschublade sollte diese Reliquie noch lange nach Tabak riechen.

      «Ich hab ihn nicht gesehen», sagte Onkel Jörg.

      Heinz löste den Kinnriemen und nahm den Helm ab.

      «Er hat sich nach irgendwas gebückt», sagte ich heiser.

      «Man sitzt in dem Ding so gottverdammt hoch», rechtfertigte sich Onkel Jörg und deutete überflüssigerweise auf den Transit. Eine Fliege setzte sich auf meinen Unterarm. Ich ließ sie sitzen. Ihre Füße kitzelten durch meine Haare. Mittlerweile war das Sonnenlicht von Vaters Kinn den Hals hinabgeschmolzen, und mit einer Faszination, für die ich mich heute schäme, registrierte ich, dass Vaters Hemdkragen für den Bruchteil weniger Sekunden die Grenzlinie von Licht und Schatten im Hof bildete. «So eine Scheiße aber auch!», sagte Heinz und steckte sich eine Gauloises an.

      Am nächsten Tag lehnte ich wieder an der Leibung des Küchenfensters und sah in den Hof hinab, als wäre nichts geschehen. Susanne war diese Gewohnheit ein Dorn im Auge, aber ich sollte sie erst nach unserem Umzug aufgeben, und das nur notgedrungen, weil die neue Küche bloß durch ein winziges quadratisches Fenster erhellt wurde, dessen ohnehin viel zu schmale Fensterbank Susanne mit Topfpflanzen zustellte, ehe ich protestieren konnte. «Dann bekomme ich beim Frühstück endlich mal dein Gesicht zu sehen!», meinte sie, doch in der Art, wie sie es sagte, schwang das sichere Wissen mit, sich nie mit meiner Morgenlaune anfreunden zu können. Aber ich greife vor. In dem Sommer, von dem ich hier erzählen will, war Vater schon einige Jahre tot und ich schrieb an meinem ersten Roman. An Wochentagen stand ich mit Susanne und Jens, der inzwischen die zweite Klasse besuchte, auf und trank, sobald die beiden das Haus verlassen hatten, einen Kaffee nach dem anderen am Küchenfenster, bis ich mit der Arbeit beginnen konnte. Gegenüber schlich Onkel Jörg durch die Wohnung über dem Beerdigungsinstitut. Um diese Uhrzeit trug er gewöhnlich einen lila Frotteebademantel und bewegte sich durch sein Schlafzimmer, in das der Wind die Vorhänge des geöffneten Fensters blähte, wie ein Taucher mit Bleischuhen auf dem Meeresgrund. Heinz war noch nicht da, denn die Vespa lehnte nicht an der Wand des Sarglagers, und Om war wohl wieder unterwegs, um in der fast hüfthohen Wiese hinterm Haus, die bald mal wieder gesenst werden müsste, seinen beneidenswert unkomplizierten und abenteuerlichen Geschäften nachzugehen.

      Noch eine oder zwei Tassen, dann eine Zigarette, überlegte ich (im Gegensatz zu Heinz rauchte ich meist eine milde Marke), und dann müsste ich endlich nach oben gehen, um auf dem Dachboden weiter an meinem Roman zu basteln. Wenn ich heute zwei Seiten rausquäle, bin ich gut. Oder drei. Winkler behauptet, sieben Seiten am Tag schreiben zu können, aber das nehme ich ihm nicht ab. Ich ließ Kaffeepulver in die Filtertüte rieseln, ich brauche nicht mitzufahren, nahm meine Tasse von der Spüle, wo sie mehrere Tellertürme bewachte, denn heute ist ein guter Tag, schwenkte sie mit lauwarmem Wasser aus, summte vor mich hin, ein Schreibtag. Seit Vaters Tod fuhr ich montags und mittwochs im Leichenwagen mit, damit Onkel Jörg währenddessen den, wie er es nannte, Bürokram erledigen konnte. In Notfällen rief er mich mitunter nachts an, und war ich nicht zu Hause, probierte er es in Mollingers Eck, wo ich mich fast jeden zweiten Abend mit Achim traf. Dass man uns nachts anforderte, geschah jedoch höchst selten, denn fast neunzig Prozent unserer Klientel zogen es vor, im Krankenhaus zu sterben, und weil dort der Totenschein erst morgens ausgestellt wird, packt man die Toten nachts in die Kühlvitrinen, lässt die Ärzte weiterschlafen, und damit hat es sich. Onkel Jörg mochte es übrigens sehr, wenn ich ihn in angetrunkenem Zustand begleitete. Ich erinnere mich gut an dieses eine Mal, als er mich in Mollingers Eck abholte, um «rasch einen einzusargen» …

      Nach dem siebten Klingeln öffnete die erwachsene, verschlafen aussehende Tochter des Hauses. «Örps!», machte es hinter ihr. «Kommen Sie rein!», sagte die Frau, und wir betraten einen Flur, wo sich ein zerzauster Beo auf seiner Stange freute und rülpsende Geräusche von sich gab. Durch einen Türspalt sah ich eine ältere Dame mit wirrem Haar, vermutlich die Gattin des Verstorbenen, auf dem Ehebett sitzen. Jedes Mal, wenn der Beo rülpste, riss sie die Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf. Der Vogel hüpfte zum rechten Rand der Stange, sah die Männer mit dem Sarg nachdenklich an, legte den Kopf schief und erklärte Onkel Jörg: «Örps!» Der holte Luft und wollte gerade etwas erwidern, da fragte ich routiniert (und nach sieben Bieren noch bewundernswert beherrscht): «Wo befindet sich der Verstorbene?» Die Tochter führte uns ins Wohnzimmer, gehäkeltes Deckchen auf dem Fernseher, Nussbaumbücherregale ohne Bücher, Bilder von Waldtieren und Seen, ein nacktes, unangenehm behaartes Bein, das unter einem Plaid mit bunten Rauten hervorlugte. «Brauchen Sie mich noch hier?» – «Nein, danke! Das kriegen wir alleine hin.» Wir setzten den Sarg ab, Onkel Jörg zog die Decke vom Leichnam, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf einen Sessel. Der Tote war höchstens sechzig, hatte ein versoffenes Gesicht und eine dicke aufgequollene Nase. Schmutzig weißes, ehemals wohl blondes Haar hing ihm strähnig in die Stirn. Wie die meisten Toten sah er erstaunt aus. Und auf einmal legte der Beo im Flur los und gab mit heiserer, vulgärer Stimme eine Sottise nach der anderen zum Besten, und ich sah in verblüffender Klarheit den Verstorbenen vor mir, dem wir gerade das Leichenhemd anlegten, sah ihn vor der Stange im Flur stehen und seinem Beo das Sprechen beibringen: «Ich bin der Felix. Hallo! Hallo! Wie gehts dir? Ich bin der Felix! Ich hab Hunger! Fe-lix! Fe-lix! Ich bin der Fe-lix!» Bei jedem Krächzen des Vogels ertönte aus dem Schlafzimmer ein Schluchzen, und als der Beo in der weinerlichen Cholerik eines Betrunkenen «Wo sind denn die Scheißschlappen?» keifte, verlor ich die Beherrschung.

      Onkel Jörg zwinkerte mir zu, sagte: «Der Vogel, der Vogel …», und wir mussten uns aufs Sofa setzen. «Gibt es Probleme?» Die Tochter des Toten erschien in der Tür, ein Postsparbuch in der Hand. «Nein», würgte Onkel Jörg und erhob sich ächzend. «Alles ist in bester Ordnung.» Doch kurz darauf ging es die fürchterlich steile, eng gewundene Treppe hinab, die zu allem Überfluss noch ein unnötig hohes Geländer hatte. Drittes Stockwerk, der Beo keifte, die Tochter war uns in den Füßen, und ich arbeitete ohnehin lieber mit Heinz zusammen, der in etwa meine Größe hatte. Musste ich mit Onkel Jörg, er war klein und dick, einen Sarg tragen, spürte ich es noch am nächsten Tag im Kreuz. «Du solltest den Sarg anheben!», schlug ich vor. «Ja», sagte Onkel Jörg, tat es aber nicht, ich strauchelte, und Zack! schrammte der Sarg an der Wand entlang, Kratzer in der Tapete. Geduldig: «Du musst versuchen, den Sarg noch ein Stückchen anzuheben!» – «Nein», widersprach Onkel Jörg, dessen Augen vor Anstrengung aus den Höhlen traten. «Wenn ich in die Knie gehe, kannst du …» – «Nein, ich gehe in die Knie, und du hebst den Sarg an.» – «Gut», sagte er, machte jedoch keine Anstalten, den Sarg anzuheben. «Vorsicht!», warnte ich vergeblich. «Hoch! Anheben! Langsam!» Zack! wieder die Wand, und Bomm! setzte Onkel Jörg den Sarg ohne Ankündigung auf dem Treppenabsatz ab, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, hatte danach aber keine Geduld, sich mit mir über unser weiteres Vorgehen zu beraten, sondern hob den Sarg so plötzlich an, dass ich einen Schritt treppauf machen musste, um mein Rückgrat zu retten. «Sag: ‹Hallo!›», rief oben der Beo mit der versoffenen Stimme des Verstorbenen. «Scheißvogel! Sag endlich was! Sag: ‹Hallo!›, du Idiot!» – «Hallo!», sagte ich. – «Örps!», kam es von oben. – «Ich drehe mich um», verkündete Onkel Jörg, «dann kann ich besser greifen.» Ungeschickt wie ein Käfer begann er, sich im Treppenhaus umzudrehen. «Ich bin der Felix Örps!», rief es oben. Dem «Örps!» folgte das obligatorische Geschluchze aus dem Schlafzimmer. Die sterbliche Hülle Ihres Mannes nehmen wir mit, aber seine Stimme lassen wir Ihnen noch ein Weilchen da. Ich lachte immer noch, als ich versuchte, zu Susanne ins Bett zu kriechen, ohne sie aufzuwecken. «Was ist denn los?», fragte sie. «Der Örps ist los!», sagte ich. Sie fixierte mich schlaftrunken, und ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen und verkündete mit Grabesstimme, dass in dieser Nacht der Örps gestorben sei.

      Solche Nachtfahrten mit Onkel Jörg waren glücklicherweise eine Seltenheit. Das ersparte mir zum einen Kreuzschmerzen, außerdem blieb mein Freund Achim ungern allein in Mollingers Eck sitzen. Montags und mittwochs fuhr ich, wie bereits erwähnt, mit Heinz den Leichenwagen. Er arbeitete länger im Beerdigungsinstitut, als ich mich erinnern konnte, und trug nun Jens auf den Schultern im Hof umher, wie er früher mich getragen hatte. Heinz

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