Germanias Vermächtnis. Swen Ennullat
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Als Torben seine Augen wieder öffnete, wurde das Trugbild zu einer realen Gestalt und konnte sogar sprechen: „Hallo Trebesius, bekomme ich auch einen?“
Seine Überraschung überspielend, zuckte er kurz mit den Schultern und entgegnete gelangweilt: „Von mir aus, aber erlaubt Ihnen denn der Mossad in der Öffentlichkeit oder gar im Dienst Alkohol zu trinken?“
„Touché, mein Freund! Ich mag Ihre direkte Art. So gesehen haben Sie Recht, lassen wir den Drink, deshalb bin ich nicht hier.“
„Das kann ich mir schon denken, Levitt!“, entgegnete Torben. „Also, was wollen Sie noch von mir und wie haben Sie mich überhaupt gefunden?“
Eigentlich hätte Torben höflicher zu ihm sein müssen, denn Levitt war der Agent, der sein Leben in Thüringen gerettet hatte. Ohne ihn wäre er durch Nicoles Hand ermordet worden. Aber Levitt war auch derjenige, der die Schutzmaßnahmen für ihre Familien veranlassen sollte. Obwohl Torben längst wusste, dass eigentlich die deutschen Sicherheitsbehörden versagt hatten, weigerte er sich beharrlich, diese Tatsache zuzugeben. Da Levitt hier vor ihm stand, hatte er endlich jemanden, dem er eine Mitschuld am Tod seiner Mutter geben konnte.
„Ihre Flugroute nachzuvollziehen war eine der leichteren Aufgaben; Ihr Hotel oder sagen wir besser: Ihre Absteige zu finden war schon ungemein schwieriger. Sie sind anscheinend kein Freund eines guten Zimmerservice. Mit wie vielen Käfern und Wanzen teilen Sie sich denn Ihre Matratze?“ Die letzte Bemerkung – begleitet von dem Ansatz eines Lächeln – sollte das Eis brechen, Torben reagierte darauf aber nur mit Gleichgültigkeit und so setzte Simon Levitt gezwungenermaßen fort: „Na ja, letztendlich half uns der Fahrer des Taxis weiter, das Sie am Flughafen genommen hatten.“
Torben nickte zwar gedankenverloren, fragte aber sofort in spürbar abweisender Tonlage nach: „Und die thailändischen Behörden stört es überhaupt nicht, dass der Mossad in ihrem Land Ermittlungen durchführt?“
Levitt schien sich von seinem Benehmen nicht irritieren zu lassen und antwortete mit ruhiger und sonorer Stimme: „Nun ja, seitdem der Iran durch die Hisbollah das Land zum Austragungsort seines Kampfes gegen israelische Staatsbürger auserkoren hat, haben sich unsere Beziehungen – sozusagen notgedrungen und über Nacht – bedeutend verbessert. Thailand sorgt sich um seinen guten Ruf als sichere Pilgerstätte der ausländischen Touristen und kooperiert deshalb mit uns. Es geht also letztendlich wie immer um Geld, wahrscheinlich sehr viel Geld. So einfach ist das!“
„So einfach ist das, ja?“, wiederholte Torben langsam und wandte sich angewidert von Levitt ab.
„Trebesius, wir …“
Weiter kam er nicht, denn Torben fuhr ihm ins Wort und schrie ihn an: „Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich endlich in Ruhe! Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß! Und was haben Sie für mich getan? Nichts! Gar nichts! Ich hatte Sie nur um einen einzigen Gefallen gebeten! Erinnern Sie sich? Sie sollten meine Mutter schützen! Mehr nicht! Und trotzdem haben Sie dabei versagt! Ich bin fertig mit Ihnen! Haben Sie verstanden? Fertig! Und jetzt verschwinden Sie endlich!“
Sein Geschrei hatte die Aufmerksamkeit etlicher Gäste erregt, Touristen und zwielichtige Gestalten gleichermaßen starrten nun neugierig in Torbens und Levitts Richtung. Der Mossad-Agent drehte sich tatsächlich – vermutlich wegen der ungewollten Aufmerksamkeit durch Torbens Gefühlsausbruch – ohne ein weiteres Wort zu verlieren um und drängelte sich durch eine gerade hereinkommende und lärmende Gruppe junger Leute nach draußen. Torben, perplex, dass er sich so schnell bei seinem Gesprächspartner durchsetzen konnte, verlor ihn schon nach wenigen Sekunden aus den Augen und blieb mit einem noch größeren Gefühl der Leere als zuvor zurück, das er nun wieder mit Lao Khao würde bekämpfen müssen.
Halb betrunken wie er war, versuchte er sich dennoch, etwas zu sammeln und die gerade erlebte Szene zu verarbeiten.
Levitt hatte ihn in einer schäbigen Hinterhofkneipe im tiefsten Thailand aufgespürt, um mit ihm zu sprechen. Und trotz der Mühen, die er sich gemacht haben musste, ließ er sich so einfach von ihm wegschicken? Dahinter musste noch etwas anderes stecken. Torben bemühte sich redlich, sich auf die Beantwortung dieser Frage zu konzentrieren, aber der Schnaps entfaltete längst seine Wirkung und seine Gedanken und Erinnerungen vermischten sich mit den Gerüchen und Geräuschen der Bar zu einer surrealen Traumwelt, in der er Fiktion und Realität nicht mehr trennen konnte.
War Levitt wirklich hier gewesen oder hatte ihm seine Phantasie einen Streich gespielt?
Sein Kopf dröhnte und ihn überfiel ein Gefühl von Übelkeit und Schwindel. Niemand in seiner Nähe nahm davon Kenntnis, als er sich, um nicht vom Hocker zu fallen, so an die Bar klammerte, dass seine Fingerknöchel schon weiß hervortraten. Nach Levitts Abgang, der die Aussicht, in den Genuss einer Barschlägerei zu kommen, abrupt beendet hatte, war er für alle anderen Gäste längst wieder uninteressant geworden.
Der Kampfring war mittlerweile zur Bühne zurückgebaut, eine Leinwand und eine Karaoke Anlage aufgestellt worden. Die jungen Leute, die als Letzte gekommen waren, erkoren aus ihrer Mitte einen rothaarigen Halbwüchsigen mit einem gefährlich aussehenden Sonnenbrand im Gesicht zum ersten Gesangsstar des Abends. Mit einer grauenhaften Version von U2 s „With or without you“ erklang ein Lied, das noch mehr längst vergessene Dämonen in Torben weckte und ihn noch tiefer in seine Trugbilder und Tagträume schleuderte.
Aber plötzlich war sie da, eine sanfte und vertraute Stimme, ganz nah an seinem Ohr, und eine warme Hand, die sich behutsam auf seinen Unterarm legte. Er konnte die Worte zuerst nicht verstehen und fragte wie in Trance: „Was … Was ist los?“
Aus dem Gemurmel wurden klare Sätze, die zu ihm durchdrangen: „Ich sagte, dass du unseren Song selbst in deinem jetzigen Zustand tausendmal besser singen würdest.“
Er blickte auf den Mund, aus dem die Worte kamen und versank, wie schon hunderte Male zuvor, in den darüber liegenden grünen Augen. Er sagte sich, dass sie nicht real sein konnte! Sie war nicht hier! Sein Verstand musste ihm einen noch übleren Streich spielen! Die langen, schwarzen Haare, die wunderschönen Lippen, all das bildete er sich nur ein. Ganz klar, er wurde verrückt!
Sie erkannte offenbar sogar in seinem glasigen Blick, was in ihm vorging und sprach weiter: „Torben, hörst du mich? Ich bin es, Julia!“
„Julia?“, die Schleier seines Rausches lüfteten sich ein klein wenig, „Julia, bist du es wirklich? Erst Levitt, dann du … Was machst du hier?“
Sie stöhnte auf und er bemerkte, wie erschöpft sie aussah, aber trotzdem schenkte sie ihm ein wundervolles Lächeln. „Na ja, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten gehen. Und jetzt komm mit, ich bringe dich hier raus.“
Die halbvolle Flasche Schnaps auf der Theke zurücklassend, ließ sich Torben von ihr widerstandslos aus der Bar führen, weil es sich in diesem Moment wie das einzig Richtige anfühlte. Die Menschen um ihn herum nahm er längst nicht mehr wahr. Julia musste ihn unterwegs mehrfach stützen, denn seine Beine versagten ihm zunehmend den Dienst, er strauchelte und lief ständig Gefahr, in die Gosse zu stürzen. Unter großer Anstrengung gelang es ihr aber, ihn unbeschadet durch die Massen an Feierfreudigen zu schleusen und wenig später auf die Rückbank eines am Straßenrand abgestellten Toyotas zu wuchten. Während sie ebenfalls einstieg und die Tür hinter sich schloss, sah der noch immer benommene Torben plötzlich Levitts Hinterkopf vor sich. Als dieser sich umdrehte und fragend Julia anblickte, drückte sie gerade Torbens Hand und flüsterte ihm zu: „Mach dir keine Sorgen,