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»Im übrigen lassen Sie sich gesagt sein, daß man in der Waldsee-Klinik in erster Linie an die Patienten denkt

      und erst in zweiter Linie ans Geld.«

      Man konnte dem jungen Mann ansehen, daß er Dr. Daniel kein Wort glaubte. Kai war selbst viel zu materialistisch eingestellt, um sich vorstellen zu können, daß für irgend jemanden Geld nicht an erster Stelle stehen könnte.

      Jetzt bedachte er Dr. Daniel mit einem abschätzenden Blick, dann drehte er sich um und verließ das Büro grußlos.

      »Meine Güte«, knurrte Dr. Daniel. »Bei der Erziehung dieses Burschen ist aber einiges vergessen worden.«

      Er verließ sein Büro ebenfalls und suchte Nikolas Zimmer auf. Die Tür stand offen, so daß Dr. Daniel von dem jungen Paar unbemerkt eintreten konnte. Er sah, wie Kai auf der Bettkante saß und zärtlich über Nikolas dunkles Haar strich, während sie in für Dr. Daniel unverständlichen Handzeichen mit ihm sprach.

      Lautlos zog sich der Arzt wieder zurück. Der Gedanke, daß Kai wirklich nur besorgt um seine Verlobte war, lag für ihn nun doch wieder nahe. Man mußte an seinem Verhalten wohl einfach gewisse Abstriche machen. Es war für ihn sicher nicht ganz einfach, mit einer taubstummen Frau zusammenzusein.

      Währenddessen versuchte Kai, seine Verlobte zur Heimkehr zu bewegen, ohne seine tatsächlichen Beweggründe allzu deutlich zu verraten.

      »Es ist doch Unsinn, wenn du hierbleibst, bis die Diagnose vorliegt«, bedeutete er Nikola mit den Händen. »Zu Hause hast du es viel gemütlicher.«

      Aber die junge Frau schüttelte den Kopf. Kai wußte ja nichts von ihren Ängsten und Alpträumen, und obwohl Nikola ihn sehr liebte… oder vielleicht sogar gerade deshalb, brachte sie es einfach nicht über sich, ihm von den schlimmen Minuten ihres Lebens zu erzählen. Irgendwie fürchtete sie, Kai könnte sich vor ihr ebenso ekeln, wie sie es selbst seitdem tat. Seit jenem schrecklichen Tag empfand sie ihren Körper als beschmutzt… entehrt, und der Gedanke, Kai könnte dasselbe empfinden… er könnte sich deswegen von ihr abwenden…

      »Ich fühle mich wohl hier«, signalisierte sie ihm und war froh dabei, nicht lügen zu müssen. Sie fühlte sich in der Klinik wirklich wohl, darüber hinaus aber auch sicher. Sie hoffte, daß diese Sicherheit sogar soweit gehen würde, daß die Alpträume heute fernblieben. Eine ruhige, ungestörte Nacht… etwas Schöneres konnte sich Nikola im Moment kaum vorstellen.

      Kai seufzte abgrundtief, was Nikola allerdings nicht hören konnte.

      »Also schön«, gab er endlich nach. »Wenn du glaubst, hier in der Klinik gut aufgehoben zu sein, dann bleibst du diese Nacht eben hier. Morgen nach Büroschluß hole ich dich ab, einverstanden?«

      Die junge Frau nickte, dann schmiegte sie sich einige Augenblicke lang an Kai. Er legte seine Hände auf ihren Rücken und streichelte sie sanft, doch plötzlich wurde Nikola steif in seinen Armen. Die Wärme, die von ihm ausging, erinnerte sie plötzlich wieder an jenen Tag… seine Umarmung weckte diese unangenehme Erinnerung, und gleichzeitig glaubte sie, diesen ekelerregenden Geruch zu spüren. Würde sie denn nie wieder irgendeine Berührung ertragen können, ohne an die schlimmsten Minuten ihres Lebens zurückdenken zu müssen?

      Einen Moment lang beherrschte sie sich noch, dann löste sie sich von Kai, weil sie es einfach nicht länger aushielt. Sie hatte das dringende Bedürfnis zu schreien und wußte doch, daß sie es niemals können würde.

      Aufmerksam sah Kai sie an. »Ist alles in Ordnung?«

      Nikola nickte, dann zwang sie ihre bebenden Hände zum Sprechen: »Es sind nur die Unterleibsschmerzen.«

      Kais Stirn zog sich in bedrohliche Falten. »Hoffentlich tut dieser Dr. Daniel bald etwas dagegen.«

      »Bestimmt«, versicherte Nikola rasch, dann ließ sie sich in die Kissen zurücksinken.

      »Ich bin müde«, signalisierten ihre Hände.

      Augenblicklich beugte sich Kai über sie, küßte sie sanft und streichelte über ihr dunkles Haar.

      »Schlaf schön, mein Liebling«, konnte sie von seinen Lippen ablesen und lächelte ein wenig. Kai beherrschte die Zeichensprache inzwischen perfekt, aber manchmal verzichtete er darauf – meistens dann, wenn er ihr etwas besonders Zärtliches sagen wollte.

      Er küßte sie zum Abschied, dann ging er. Lange danach blickte Nikola immer noch zu der geschlossenen Tür. Ganz plötzlich hatte sie Angst, Kai könnte vielleicht nicht mehr zu ihr zurückkehren. Abrupt richtete sie sich auf, stieg aus dem Bett und schlüpfte in Morgenmantel und Pantoffeln, dann trat sie auf den Flur. Wie gehetzt lief sie zur Treppe und stand wenig später schwer atmend in der Eingangshalle.

      Das Glashäuschen mit der Aufschrift Information, wo tagsüber die Sekretärin Martha Bergmeier saß, war jetzt leer. In der Waldsee-Klinik herrschte abendliche Stille. Langsam ging Nikola zu der doppelflügeligen Eingangstür und blickte in die Dunkelheit. Das naßkalte Wetter, das zur Zeit herrschte, beendete den Tag merklich früher, so daß es bereits jetzt, kurz vor sieben Uhr abends, schon ziemlich finster war.

      Als Nikola plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter fühlte, fuhr sie erschrocken herum und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes.

      »Ich habe Sie schon einmal gerufen«, konnte sie von seinen Lippen ablesen. »Haben Sie mich denn nicht gehört?«

      Nikola schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, daß sie taubstumm war, obgleich sie nicht annahm, daß der junge Mann ihre Zeichensprache verstehen würde. Um so erstaunter war sie, als er ihr auf eben diese Weise antwortete.

      »Tut mir leid, das wußte ich nicht. Ich hoffe, ich habe Sie durch meine plötzliche Berührung nicht zu sehr erschreckt.«

      Nikola lächelte.

      »Ein bißchen schon«, gab sie zurück, dann wollte sie wissen: »Wie kommt es, daß Sie die Zeichensprache so gut beherrschen?«

      Auch der junge Mann lächelte nun, während seine Hände Worte formten: »Ich habe eine Weile an einer Gehörlosenschule gearbeitet.« Er sah die Bewunderung in Nikolas Blick und hob abwehrend beide Hände. »Nicht, was Sie jetzt denken. Ich war dort nur als Pfleger angestellt, aber dabei bekommt man zwangsläufig einiges mit. Im übrigen hat mich die Zeichensprache nicht nur interessiert – ich wollte mich mit den Menschen, die ich Tag für Tag versorge, auch unterhalten können.«

      Nikola fand den jungen Mann auf Anhieb sehr sympathisch und konnte sich gut vorstellen, wie beliebt er an jener Gehörlosenschule gewesen sein mußte.

      »Arbeiten Sie nun hier als Krankenpfleger?« wollte sie von ihm wissen.

      Der junge Mann schüttelte den Kopf, hielt aber mitten in der Bewegung inne und dachte eine Weile nach, dann glitt ein glückliches Strahlen über sein Gesicht.

      »Da haben Sie mich jetzt auf eine Idee gebracht«, signalisierte er ihr. »Wissen Sie, ich bin arbeitslos, und eigentlich bin ich nur als Patient hier, aber vielleicht…« Er ließ die Hände für einen Moment sinken, dann lächelte er Nikola an. »Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«

      Nikola zögerte. Seit sie Kai kannte, war sie nie mehr mit einem anderen Mann zusammen gewesen – nicht einmal in so harmloser Weise wie jetzt. Kai konnte rasend eifersüchtig sein. Andererseits… die lockere Unterhaltung mit diesem jungen Mann tat ihr so gut. Er schaffte es, sie ihre Ängste vergessen zu lassen.

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