Der Strick um den Hals. Emile Gaboriau
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Читать онлайн книгу Der Strick um den Hals - Emile Gaboriau страница 5
»Denn in der Tat«, wiederholte er zum zehnten Male seinen Reisegefährten, »ist es erklärlich, ist es logisch, daß ein Übeltäter es gerade auf den Grafen und die Gräfin von Claudieuse abgesehen haben sollte, auf den vortrefflichsten, den hochgeachtetsten Mann des Bezirks, und auf eine Frau, deren Namen mit Tugend und Herzensgüte gleichbedeutend ist.«
Und eifrig begann der Bürgermeister, ohne sich durch die derben Stöße des Wagens stören zu lassen, alles, was er von der Geschichte des Besitzers von Valpinson wußte, zu erzählen.
Der Graf Trivulce von Claudieuse war der letzte Nachkomme einer der ältesten Familien des Landes. Mit sechzehn Jahren hatte er, etwa um 1829, seine Heimat verlassen und war dann lange Zeit nur selten und zu ganz kurzen Besuchen nach Valpinson zurückgekehrt.
Im Jahre 1859 war er Schiffskapitän geworden und zum Konteradmiral bestimmt, als er plötzlich seinen Abschied eingereicht und sich in Valpinson niedergelassen hatte, wo übrigens von dem einstigen Glanz des alten Schlosses wenig mehr übrig war als zwei Türme, die auch schon halb in Trümmern lagen und von mächtigen Haufen geschwärzter und bemooster Steine umgeben waren.
Zwei Jahre lang hatte er einsam hier für sich gelebt, sich, so gut es eben ging, eine Wohnung hergerichtet und sich mit den Vermögensresten seiner Vorfahren, dank seinem unablässigen Fleiße, ein bescheidenes Wohlleben gesichert.
Da meinte wohl jedermann, daß er auch in dieser Weise sein Leben beschließen würde, als das Gerücht sich verbreitete, der Graf würde sich verheiraten.
Und ausnahmsweise war diesmal das Gerücht wahr.
Eines schönen Tages war Herr von Claudieuse nach Paris gereist, und bald darauf erfuhr man durch schriftliche Anzeigen, daß er sich mit der Tochter eines seiner ehemaligen Kollegen, dem Fräulein Geneviève von Tassar, vermählt habe.
Das allgemeine Erstaunen war groß. Zwar war der Graf noch ein wohlaussehender Mann, sogar von auffallend stattlicher Erscheinung; aber er zählte bereits siebenundvierzig Jahre, und Fräulein Tassar de Bruc hatte kaum das zwanzigste erreicht.
Ja, wenn die Neuvermählte arm gewesen wäre, hätte man die Sache begriffen und für ganz in der Ordnung gehalten. Es ist ja so natürlich, daß ein Mädchen ohne Aussteuer die Wünsche des Herzens der Frage äußerlicher Wohlfahrt opfert. Aber dies war nicht der Fall. Der Marquis Tassar de Bruc galt für reich und hatte, wie man behauptete, seinem Schwiegersohn fünfzigtausend Taler ausbezahlt.
Dann, hatte man weiter geschlossen, müßte die junge Gräfin häßlich zum Erschrecken sein, gebrechlich, schwachsinnig vielleicht und verwachsen – oder wenigstens von unausstehlichem Charakter.
Aber weit gefehlt! Sie erschien in ihrem neuen Wohnort – und alles war hingerissen von ihrer edlen und sanften Schönheit; sie sprach zu den Leuten – und alles gab sich dem Zauber ihrer Rede gefangen.
Sollte in der Tat diese Verbindung, wie man in Sauveterre behauptete, eine Heirat aus Neigung gewesen sein?
Wirklich fing man an, es zu glauben, was aber zahlreiche alte Jungfern nicht hinderte, den Kopf zu schütteln und zu behaupten, siebenundzwanzig Jahre Unterschied sei zuviel zwischen zwei Gatten, und die Ehe werde keine glückliche sein.
Die Tatsachen aber hatten diese üble Prophezeiung durchaus Lügen gestraft. Auf zehn Meilen in der Runde gab es keinen friedlicheren Hausstand als den des Herrn und der Frau von Claudieuse. Durch zwei Töchter, die ihnen im Zeitraum von zwei Jahren geboren wurden, schien das friedliche Glück ihres häuslichen Herdes völlig gesichert.
Aus der Zeit seiner früheren Tätigkeit, als er seine entlegenen Güter in Frankreich verwaltete, hatte der Graf freilich den stolzen Ton eines Befehlshabers, eine strenge und kalte Haltung, eine kurze Redeweise beibehalten.
Er war außerdem von so großer Heftigkeit, daß der geringste Widerspruch ihm das Blut ins Gesicht trieb.
Aber die Gräfin war die Ruhe und die Sanftmut selbst, und da sie immer vermittelnd zwischen den Zorn ihres Gatten und denjenigen zu treten wußte, der ihn erregt, da sie beide gerecht, gut bis zur Schwäche, großmütig und mitleidig gegen Notleidende waren, so wurden sie angebetet.
Es gab nur einen Punkt, in welchem der Graf keinen Scherz verstand. Das war die Jagd. Als passionierter Jäger bewachte er das ganze Jahr hindurch sein Wild mit der Ängstlichkeit eines Geizhalses, indem er die Schutzwerke und die Zahl der Jagdhüter verdoppelte und die Wilderer mit einer solchen Wut verfolgte, daß die Bauern sagten: »Es wäre besser, ihn um hundert Pistolen bestehlen, als ihm eine seiner Amseln töten.«
Herr und Frau von Claudieuse lebten im übrigen ziemlich abgeschlossen, ganz durch die Besorgung einer ausgedehnten Landwirtschaft und die Erziehung ihrer beiden Töchter in Anspruch genommen. Nur selten pflegten sie Gäste bei sich zu empfangen, und kaum viermal des Winters sah man sie in Sauveterre bei den Fräulein von Lavarande oder bei dem alten Baron von Chandoré. In jedem Sommer aber zogen sie auf einen Monat nach Royan, wo sie ein Landhaus besaßen. Ebenso pflegte die Gräfin zum Beginn der Jagdzeit mit ihren Töchtern einige Wochen bei ihren in Paris ansässigen Eltern zu verbringen.
Um dieses friedliche Dasein aus seinen Fugen zu heben, bedurfte es keines geringeren Stoßes als der Katastrophe von 1870.
Als der Graf erfuhr, wie die siegreichen Preußen den heiligen Boden des Vaterlandes überfluteten, erwachte in dem alten Schiffskapitän mit aller Macht der Franzose und der Soldat.
Obwohl hartnäckiger Legitimist, erklärte er sich doch bereit, für die Republik zu sterben, wenn nur Frankreich gerettet würde. Ohne den Schatten eines Zögerns bot er Gambetta, den er haßte, seinen Degen dar.
Zum Obersten eines Infanterie-Regiments ernannt, schlug er sich wie ein Löwe vom ersten bis zum letzten Tag.
Als er nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes nach Valpinson zurückkehrte, gelang es niemandem außer seiner Frau, ihm ein Wort über den unglücklichen Feldzug zu entlocken.
Man forderte ihn auf, sich für die Wahlen zu melden, und gewiß wäre er gewählt worden, aber er schlug es aus und sagte, er wisse wohl zu kämpfen, das Reden aber sei seine Sache nicht.
Nur mit halbem Ohr hatten der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter allen diesen Geschichten zugehört, die sie ebenso gut kannten wie Herr Sénéchal.
»Aber«, rief endlich Herr Galpin-Daveline, »kommen wir denn gar nicht vorwärts? Soviel ich um mich schaue, so seh' ich doch keine Spur einer Feuersbrunst.«
»Das ist, weil wir uns in einer Senke befinden«, antwortete der Bürgermeister. »Aber wir kommen schon vorwärts, und wenn wir auf der Höhe des Hügels sein werden, zu der wir eben hinauffahren, dann – beruhigen Sie sich –, dann werden Sie schon sehen –«
Dieser Hügel ist sehr bekannt in dem Bezirk,