Der Strick um den Hals. Emile Gaboriau

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Der Strick um den Hals - Emile Gaboriau

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wenn er das Kapitel der Reformen und die Fortschrittspläne erörterte, von denen er träumte.

      Er setzte seine Zuhörer in Schreck durch den Ton, in dem er davon sprach, daß man mit Feuer und Schwert bis auf den Grund der verfaulten Eingeweide der Gesellschaft dringen müsse.

      Diese oft wunderlichen Ansichten und Wohlfahrtstheorien und die oft noch wunderlicheren Grundsätze, die er offen kundgab, hatten dann und wann sogar Zweifel an der normalen Verstandesbeschaffenheit des Doktors Seignebos erregt.

      Es waren die Wohlwollendsten, die sich damit begnügten, ihn »ein Original« zu nennen. Dieses »Original« war selbstverständlich Herrn Sénéchal, dem einstigen reaktionären Sachwalter, nicht sehr zugetan. Auf den Staatsanwalt der Republik sah er verächtlich wie auf einen unnützen Spürhund alter Scharteken herab. Herrn Galpin-Daveline aber haßte er von Herzen. Dennoch grüßte er sie alle drei, und ohne sich darum zu kümmern, ob er von seinem Patienten gehört wurde oder nicht, sagte er: »Sie sehen, meine Herren, Herr von Claudieuse ist in einer sehr mißlichen Lage ... Es ist eine mit Schrot geladene Flinte gewesen, die man auf ihn abgeschossen, und die Wirkung, die durch Wunden dieser Art entsteht, ist unberechenbar. Ich wäre wohl geneigt zu glauben, daß kein wesentliches Organ angegriffen ist, aber dafür einstehen kann ich nicht. Ich habe oft in meiner Praxis winzige Verletzungen beobachtet, wie eben ein Schrotkorn sie hervorbringen kann, Verletzungen, die dennoch tödlich waren und erst nach zwölf oder fünfzehn Tagen es erwiesen.«

      Er hätte vermutlich noch lange so fortgefahren, wäre er nicht in barschem Ton unterbrochen worden. »Herr Doktor«, sprach der Untersuchungsrichter, »um eines Verbrechens willen, das vollbracht worden ist, bin ich hier. Der Schuldige muß entdeckt und bestraft werden. Und im Namen der Justiz fordere ich von diesem Augenblick an die Beihilfe Ihrer Aufklärungen.«

      3

      Durch diesen einzigen Satz bemächtigte Herr Galpin-Daveline sich eigenmächtig der Situation und wies dem Doktor Seignebos, Herrn Sénéchal und selbst dem Staatsanwalt die zweite Stelle zu.

      Es existierte nichts mehr als ein Verbrechen, dessen Urheber entdeckt werden mußte, und der Richter in seiner Person.

      Aber wie sehr er sich auch bemühte, seine gewohnte Steifheit und jene Verachtung jedes menschlichen Gefühls zu steigern, die der Justiz mehr Feinde zugezogen als ihre grausamsten Fehlgriffe, alles an ihm bebte vor verhaltener Genugtuung, alles bis auf die Haare seines wie die Buchsbäume von Versailles zugespitzten Bartes.

      »Also, Herr Doktor«, fuhr er fort, »haben Sie etwas dagegen, daß ich den Verletzten verhöre?«

      »Besser wäre es ohne Zweifel«, brummte der Doktor Seignebos, »ihn in Ruhe zu lassen, soeben habe ich ihn eine Stunde lang gemartert, und in einigen Augenblicken werde ich von neuem anfangen, die Schrotkörner herauszuziehen, die in dem Fleisch stecken ... Doch wenn Sie darauf bestehen ...«

      »Ich bestehe darauf ...«

      »Nun, dann beeilen Sie sich, das Fieber wird nicht mehr lange ausbleiben.«

      »Daveline«, sagte Herr Daubigeon, der seine Unzufriedenheit ohne Hehl sehen ließ, »Daveline!«

      Der andere schien es nicht zu hören.

      »Fühlen Sie sich imstande, auf meine Fragen zu antworten, Herr Graf?« fragte er.

      »Oh, vollkommen!«

      »Dann haben Sie die Güte, mir zu sagen, was Sie von den unheilvollen Begebenheiten dieser Nacht wissen.«

      Von seiner Gemahlin und dem Doktor Seignebos unterstützt, richtete der Graf von Claudieuse sich in seinen Kissen auf.

      »Was ich weiß«, begann er, »wird leider der Nachforschung der Justiz nichts helfen. Es mochte etwa elf Uhr sein, denn ich könnte nicht einmal die Stunde genau angeben, ich hatte mich niedergelegt und seit geraumer Weile mein Licht ausgelöscht, als ein sehr greller Schein durch die Fensterscheiben brach. Ich wunderte mich darüber, aber ohne mich zu bedenken, denn ich befand mich bereits in jenem Stadium von Halbschlummer, der, ohne eigentlicher Schlaf zu sein, doch auch kein Wachen mehr ist. Ich fragte mich wohl was das sei, stand aber nicht auf. Erst ein lautes Geräusch, wie von einer einstürzenden Mauer, brachte mich zum Bewußtsein. – Aber dann sprang ich aus meinem Bett und wußte: es brennt.

      Meine Unruhe verdoppelte sich, als mir zum Bewußtsein kam, daß in meinem Hof und um die Gebäude sechzehntausend Holzhaufen vom Schlag des vergangenen Winters lagen. Halb angekleidet stürzte ich auf die Treppe hinaus. Ich war sehr verstört, ja ich gestehe, ich war es in solchem Grade, daß es mir nur mit der größten Mühe gelang, die äußere Türe zu öffnen. – Ich brachte es dennoch zustande. Aber kaum hatte ich den Fuß auf die Schwelle gesetzt, als ich auf der rechten Seite einen furchtbaren Schmerz empfand und dicht neben mir einen lauten Knall hörte.«

      Mit einer Handbewegung unterbrach der Untersuchungsrichter: »Ihre Erzählung, Herr Graf, ist vollkommen klar; dennoch ist es notwendig, einen Umstand genauer anzugeben. Schoß man genau in dem Augenblick, als Sie erschienen, die Flinte auf Sie ab?«

      »Ja, mein Herr.«

      »Also war der Mörder ganz bereit, auf der Lauer ... Er wußte, daß die Feuersbrunst Sie unvermeidlich heraustreiben würde, und wartete.«

      »Das war und das ist auch jetzt noch mein Eindruck«, erklärte der Graf.

      Herr Galpin-Daveline wandte sich zu Herrn Daubigeon. »Also«, sagte er, »ist der Mord das Hauptfaktum, welches die Anklage im Auge behalten muß. Die Feuersbrunst ist nur ein die Strafbarkeit erhöhender Umstand, das von dem Schuldigen ersonnene Mittel, um der Vollführung des Verbrechens sicherer zu sein« ... worauf der Untersuchungsrichter mit den Worten: »Fahren Sie fort, mein Herr!« sich wieder zu dem Grafen wandte.

      »Da ich mich verwundet fühlte«, fuhr Herr von Claudieuse fort, »war meine erste, übrigens ganz instinktive Bewegung, dem Orte zuzustürzen, von wo, wie mir schien, der Schuß gefallen war. Ich hatte nicht drei Schritte gemacht, als ich mich von neuem an der Schulter und am Halse getroffen fühlte ... Diese zweite Verletzung war ernsthafter als die erste, denn mein Herz hörte auf zu schlagen, mein Kopf schwindelte, ich fiel nieder ...«

      »Sie wurden des Mörders nicht einmal gewahr?«

      »Doch – im Augenblick, als ich stürzte, glaubte ich zu sehen, wie ein Mann hinter einem Holzhaufen hervorstürzte, den Hof durcheilte und draußen im Felde verschwand ...«

      »Würden Sie ihn wiedererkennen?«

      »Nein.«

      »Aber haben Sie gesehen, wie er gekleidet war, können Sie mir sein Signalement angeben?«

      »Auch das nicht. Es war wie ein Nebel vor meinen Augen, und er glitt vorbei gleich einem Schatten.«

      Es gelang

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