Handeln mit Dichtung. Sandra Schneeberger

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Handeln mit Dichtung - Sandra Schneeberger Beiträge zur nordischen Philologie

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das Ziel sein. So sagt z.B. Jutta Eming (ähnlich wie bereits oben Gragnolati und Suerbaum), dass sich Untersuchungen mit einer performativen Perspektive durchaus lohnen, denn performative Kulturen zeichnen sich immer auch durch ein Reden über performative Phänomene bzw. deren Gestaltung aus. Derartige selbstreflexive Momente sind spannend und lohnen eine genaue Untersuchung. Eming sagt zum wichtigsten vormodernen performativen Turn und dessen Reflexion in textuellen Medien:

      Der zentrale performative turn des 11. und 12. Jahrhunderts, die Etablierung einer Handschriftenkultur in der Volkssprache, kann beispielsweise nicht ohne Rekurs auf die körpergebundene mündliche Kommunikationssituation erfasst werden. Im Vordergrund steht damit die Frage, wie eine auf Visualität, Mündlichkeit und Performanz basierende Kultur mit textuellen Medien vermittelt wird. Zu den Formen, die sich aus mittelalterlichen Text- und Bildquellen ermitteln lassen, gehören Phänomene inszenierter Körperlichkeit, simulierter Akustik und Visualität, Strategien der Wahrnehmungssteuerung und der affektiven und sinnlichen Beteiligung von Rezipienten.22

      Inszenierte Körperlichkeit und simulierte Akustik bzw. Visualität können z.B. als ein Reden über das Performative gedeutet werden. Ebenso verschiedene Strategien der Wahrnehmungssteuerung oder der Beteiligung des Rezipienten (sowie auf der nächsten Beobachtungsebene die Verhandlung solcher Wahrnehmungssteuerung).

      Eine forschungsgeschichtliche Wurzel des Performativen in der Mediävistik ist die Oralitätsforschung, die in den 1920er Jahren ihren Anfang nahm und stark von Milman Parry und seinem Schüler Albert Bates Lord geprägt wurde.23 Untersuchungen in ihrer Tradition stellen die Mündlichkeit vormoderner Gesellschaften als alleinige Medialität dar und beschränken ihre Perspektive darauf. Mit Walter J. Ong erlebte der Begriff der Oralität in den 1980er Jahren wieder einen grossen Aufschwung. In seinem Aufsatz Orality, Literacy, and Medieval Textualisation fordert er die methodische Bearbeitung mündlicher Überlieferung.24

      Mit dem Begriff der Medialität wird diese Diskussion aktuell wieder aufgenommen und auch in der skandinavistischen Mediävistik untersucht.25

      Im Anschluss an Ong finden sich Positionen, die das enge Neben- und Miteinander von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Mittelalter herausstellen und die Untersuchungen abseits vom reinen Text ermöglichen. Almut Suerbaum und Manuele Gragnolati bezeichnen die mittelalterliche Kultur denn auch als „betwixt and between“:

      On the one hand, medieval culture is seen as dominated by the transition from orality to literacy, by a focus on writings, signs, signification, and hermeneutics. On the other hand, aspects of ritual, gesture, and process are at the forefront of current interest. […] Yet the question arises whether such polar oppositions really capture the characteristics of a culture which so often favoured tripartite rather than bipartite structuring, and whether in fact medieval culture is best understood as inhabiting the liminal space, in other words, whether it should, in the title of a recent study, be seen as situated ‚between body and writing‘.26

      In der skandinavistischen Mediävistik beschäftigte eine ähnlich gelagerte Frage: Nämlich die, ob die nordische Literatur ein einheimisches oder ein durch eine Obrigkeit wie die Kirche oder den Adel eingeführtes Produkt sei. Im selben Zusammenhang steht die Frage, ob es sich bei der Sagaliteratur um Geschichtsschreibung (resp. -erzählung) oder um Fiktion handelt. Die sogenannte Frei- vs. Buchprosa-Debatte zog sich über viele Jahrzehnte hin und sorgt teilweise noch heute für Diskussionen.27

      Der Romanist Paul Zumthor ist in den 1970er Jahren einer der frühesten Verfechter des Performanzbegriffs in der Mediävistik. Er widmete sich dem Begriff von literaturwissenschaftlicher Seite her, versuchte aber ethnologische, theaterwissenschaftliche und sprachphilosophische Ansätze miteinander zu verbinden, um so mittelalterliche Liedvorträge systematisch analysieren zu können. Hans Rudolf Velten sagt über seine Studien: „Zumthor griff bereits 1972 in seinem Essai de poétique médievale, basierend auf der Grundannahme der Theatralität mittelalterlicher Dichtung, auf den Begriff der performance zurück, um damit die Vokalität und multisensorische Wahrnehmung von künstlerischen Aufführungen zu beschreiben.“28 Zumthor schläg den Begriff der vocalité anstelle von oralité für die mittelalterliche Kultur vor. Obwohl die Schrift bekannt ist (und mittelalterliche Literatur heute nur noch als Schriftstück existiert), wird die volkssprachliche mittelalterliche Kultur von der Mündlichkeit bestimmt und die meisten Texte werden vor einem Publikum aufgeführt. Die menschliche Stimme ist das zentrale Medium, die Schrift kommt nur für ausgewählte Zwecke zum Einsatz. Für die Speicherung und Weitergabe von Wissen ist man sowohl auf die Mündlichkeit wie auf die Schriftlichkeit angewiesen. Mit dem Begriff der vocalité wird dieses mediale Miteinander bezeichnet. Deshalb ist es für die Mediävistik zentral, nicht nur den Text zu untersuchen, sondern auch dessen Aufführungsdimension.29 Jan-Dirk Müller sagt über Zumthor:

      Er hat […] die Materialität literarischer Kommunikation ins Zentrum der Forschung gerückt, angefangen von Stoff und Gestaltung der einzelnen Manuskriptseite über die Überlieferungsgeschichte bis hin zu der den Texten immanenten Theatralität. Er hat schliesslich das Konzept von mittelalterlicher „Literarität“ von den Vorgaben moderner Schriftkultur befreit, die bislang dominantes Modell philologischer Praxis war, hat zentrale literaturwissenschaftliche Begriffe wie ‚Text‘, und ‚Werk‘ für das Mittelalter historisch neu bestimmt und damit auch einer neuen Editionspraxis vorgearbeitet, die unter dem Titel ‚New Philology‘ auf eine Revision der Ausgaben mittelalterlicher Texte abzielt.30

      Das Handbook of Medieval Studies fasst die Auswirkungen des von Zumthor eingeführten Begriffs mouvance zusammen:

      Mouvance remains valid as principle, in theory, but impractical as textual methodology. In hermeneutics, however, it continues to define our conception of medieval textuality. Mouvance serves as a critical tool to be applied sparingly in recognizing and confronting the complex representation and interpretation of individual medieval works which are so rarely fixed in a single textual form other than as an always artificially reconstructed, pseudo-authorial archetype or as a sometimes arbitrarily selected, nominally best manuscript. For those who want „the whole story until now“, mouvance alone can accurately tell the tale through its ideal of respect for the multiple textual versions of a work in progress with all their variants, medieval and post-medieval, modern and now post-modern.31

      Zumthors Arbeiten sind wegweisend für die Mediävistik und prägen sie bis heute.32 Er griff den Entwicklungen der new philology vor, deren Herangehensweise an vormoderne Texte auch hier für den Umgang mit der P-E von grosser Bedeutung ist. In den beiden Lektürekapiteln wird das weiter thematisiert werden. Die Grenzen von Zumthors Begriffen liegen jedoch darin, dass sie in den uns überlieferten Texten nur eine Art Reduktionsform einer ursprünglichen Aufführung sehen und ein Text so nur noch eine Dokumentationsfunktion hat. Wie weiter unten beschrieben, fokussieren aktuelle Performativitätstheorien auf den Text selbst und seine Inszenierungs- resp. Vollzugsdimension.

      Die Diskussion um die Gleichzeitigkeit von Mündlichkeit und Schriftlichkeit dauert dennoch an und Ursula Schaefer macht den Begriff der Vokalität dafür stark. Ihre Überlegungen beruhen auf Zumthors Begriff der vocalité:

      Dieser Begriff [von dem, was kommuniziert wurde] muss zum einen der Tatsache Rechnung tragen, dass auf der Senderseite Schriftliches vorliegt, das auf der Empfängerseite hörend aufgenommen wird. Wie – den gelungenen Kommunikationsakt vorausgesetzt – das Schriftliche gestaltet sein muss, um hörend rezipiert und auch verstanden zu werden, bzw. wie der hörend Rezipierende das Schriftliche versteht, kann schon aus diesem Grund mit einem Textbegriff, der Schreiben und Lesen, vokale Vermittlung und Hören nicht unterscheidet, kaum erfasst werden. Es ist deshalb erneut zuerst zu trennen zwischen schriftlichem und mündlichem Diskurs.33

      Auch in der Skandinavistik wird der Begriff der Vokalität prägend und zeigt sich u.a. für die Lektüre der skandinavischen Ballade als gewinnbringend. Denn diese können nach Jürg Glauser „geradezu

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