Christina, Band 1: Zwillinge als Licht geboren. Bernadette von Dreien
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Es wurde Ostersonntagnachmittag, bis ich im Rollstuhl die Zwillinge erstmals besuchen konnte. Der erste Eindruck auf der Kinder-Intensivstation war sogar für mich ausgesprochen intensiv, obwohl ich zuvor selber in Krankenhäusern gearbeitet hatte. Rund ein Dutzend Isoletten waren zu sehen, allesamt an mehrere Überwachungsmonitore angeschlossen, welche intermittierend Alarm schlugen, und dazwischen rotierende Schwestern und Ärzte. Der Lärmpegel schien mir ungewöhnlich hoch, doch man gewöhnte sich schnell daran.
Die Isoletten von Elena und Christina standen direkt nebeneinander. In ihrem 40°C warmen Inkubator waren die beiden Winzlinge noch vollständig von einer schützenden Plastikfolie zugedeckt, um nicht auszukühlen. Somit waren sie für mich auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen, sondern erst nach dem Entfernen der Folie. Meine beiden Kinder zum allerersten Mal zu sehen, war für mich zugleich schockierend und wunderbar berührend. Jede Mutter weiß, wie klein und leicht Neugeborene sind. Doch diese beiden waren noch rund fünf bis sechs mal leichter als Durchschnittsgeborene! Ihre Augen waren noch nicht geöffnet, aber jede Hautfalte war bereits vorhanden. Ein Füßchen war nicht länger als 1cm, ebenso ein Händchen.
Doch für Emotionen war in diesem Moment keine Zeit, denn ich wurde sogleich mit Zahlen bombardiert: Elena wog 600g, war in gestrecktem Zustand 31cm lang und hatte einen Kopfumfang von 23cm. Christina wog gerade mal 570g, war 28cm lang mit einem Kopfumfang von 22cm. Beide waren sie bloß eine Handvoll Kind, wenn sie ihre Beinchen und Ärmchen angezogen hatten, vergleichbar etwa mit der Größe einer Barbiepuppe.
Bei derart kleinen Babys konnten weder am Kopf noch an Armen oder Beinen Infusionen gelegt werden, da schlichtweg keine peripheren Blutgefäße sichtbar waren. In den ersten Tagen bestand zudem die große Gefahr einer spontanen Blutung, insbesondere einer Hirnblutung, was sich fatal auf die Kinder ausgewirkt und weitere lebensverlängernde Maßnahmen in Frage gestellt hätte. Trinken war ebenfalls nicht möglich, und so diente in der Regel eine Magensonde als einziger Zugang zum noch massiv unterentwickelten Körpersystem der Winzlinge. Christina bekundete starke Verdauungsprobleme, so dass ihr weder Nahrung noch Medikamente über den Magen-Darm-Trakt verabreicht werden konnten. Daher wurde ihr bereits am Tag nach ihrer Geburt ein kaum sichtbarer Herzkatheter gesetzt, welcher Infusionslösungen direkt zu den großen Blutgefäßen am Herzen führte – eine bewundernswerte Leistung der heutigen Spitzenmedizin. Für diese äußerst risikoreiche Intervention wurde eigens ein externer Spezialist beigezogen.
Das extrem niedrige Geburtsgewicht von 570g bzw. 600g war ein klares Indiz dafür, dass den beiden Frühchen ein monatelanger Aufenthalt auf der spezialisierten Kinder-Intensivstation bevorstand. Ob sie ihren Weg in ein selbständiges Menschenleben überhaupt überstehen würden und falls ja, mit welchen Folgeschäden, dies alles war noch nicht absehbar. Sicher war, dass sie erst einmal einige außergewöhnlich schwierige Monate vor sich hatten, in denen sie beide dem Tod näher stehen würden als dem Leben.
Auch mich holte in der Woche nach der Geburt eine akute Blutvergiftung mit hohem Fieber ein, was eine erneute Hospitalisation erforderte. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz gewöhnte ich mich irgendwie an die tagtäglichen Turbulenzen auf der Intensivstation, mit zwei Babys, die unzählige Untersuchungen überstehen mussten, und mit ständigen Besprechungen und Entscheidungen mit den Ärzten. Der Zustand der Zwillinge wechselte oft von Stunde zu Stunde, von einigermaßen stabil bis zu höchst kritisch. Es war mir klar, dass es einzig und allein an meiner eigenen mentalen Einstellung zu dieser Situation liegen würde, ob ich an dieser herausfordernden Aufgabe bereits nach wenigen Tagen scheitern würde oder ob ich lernen konnte, mit ihr zu leben und die Umstände jeden Tag einfach so zu akzeptieren, wie sie sich gerade präsentierten. Denn ändern konnte ich persönlich beim besten Willen nichts daran. Das Rezept bestand für mich darin, die stabilen Momente zu genießen und die dramatischen ruhig durchzustehen.
Sowohl als Marathonläuferin als auch als Medizinische Praxisassistentin hatte ich bereits gelernt, mit Extremsituationen umzugehen, was für mich in dieser völlig neuen Lebenssituation nun höchst hilfreich war. Ich wurde mit Ängsten und Ungewissheiten konfrontiert und musste lernen, diese über eine lange Zeit hinweg auszuhalten. Damit relativierte sich so einiges aus meinem bisherigen Leben. Aus dem bloßen Verstand heraus gibt es in solchen Situationen keine tragfähige Bewältigungsstrategie. So lernte ich, zu vertrauen und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, was in mir erfreulicherweise ein positives Gefühl auslöste. Wie diese Situation letzten Endes ausgehen würde, lag nicht in meiner Hand.
Wir entschieden, dass ich bis auf weiteres eine kleine Wohnung beziehen würde, die uns vom Kinderspital vermittelt wurde und nur 150 Meter Luftlinie von der Intensivstation entfernt lag. So konnte ich mich zu jeder Tages- und Nachtzeit bei den Mädchen aufhalten. Da die Kinder vorerst über eine Magensonde ernährt wurden, wurde meine Muttermilch täglich zuerst auf Keime untersucht und dann eingefroren für später. Die Mengen, die die Zwillinge aufzunehmen vermochten, beliefen sich anfangs auf lediglich wenige Milliliter pro Tag.
Das medizinische Personal machte mich gleich zu Beginn darauf aufmerksam, dass solch extreme Frühchen imstande sind, die feinsten Energien wahrzunehmen, dass also jede negative Energie von mir – wie Angst, Stress, Überforderung, Erschöpfung, Resignation usw. – sich umgehend auf die Kinder übertragen würde. Daher rieten sie mir, ohne schlechtes Gewissen die Klinik zu meiden, falls es mir an einem Tag mal schlecht gehen sollte. Umgekehrt nahmen die Kinder aber auch alle positiven Emotionen und Energien durchaus wahr und erkannten die Stimme und die Schritte der Mama deutlich. Solche positiven Stimuli seien, so erklärten mir die Schwestern, für die neuronale Entwicklung der Frühchen höchst bedeutend.
Dies war eine klare Botschaft, die ich mir noch heute immer wieder zu Herzen nehme. Es lag und liegt mir fern, irgendwelche negativen Energien auf meine Kinder oder generell auf Menschen und andere Lebewesen zu projizieren. Auf mein inneres Gleichgewicht und auf eine positive, vertrauensvolle Grundhaltung zu achten, war somit einer der wenigen aktiven Beiträge, die ich damals für meine Kinder leisten konnte. Alles andere stand außerhalb meiner Macht.
Mein Leben hatte sich schlagartig verändert. Ich war weg von zu Hause, weg von meinem gesamten vertrauten Umfeld, weg von der Arztpraxis, weg vom eigenen Geschäft, weg von meinem Englischkurs und von allem anderen, das ich zuvor für wichtig gehalten hatte. Alle diese Dinge relativierten sich infolge der neuen Umstände komplett und hatten zu jener Zeit überhaupt keinen Stellenwert und keine Priorität für mich. Mein Leben spielte sich während Monaten nur auf der Intensivstation ab, und es zeigte sich sehr deutlich, wie rasch man sich veränderten Umständen anzupassen fähig ist und wie vieles im Leben völlig neu organisiert werden kann, auch wenn man es zuvor kaum für möglich gehalten hätte.
Mein unbändiger Glaube daran, dass die Zwillinge ihren Kampf ums Überleben letztlich gewinnen würden, hielt mich aufrecht, wenngleich ich das eine oder andere Mal mit ansehen musste, wie anderen Kindern nebenan die Lebenskraft ausging. Auch Elena und Christina kämpften, abgesehen von ihrer generellen Unterentwicklung, immer wieder mit diversen Komplikationen, deren Behandlung ihrerseits weitere Risiken nach sich zog. So vergingen die ersten Wochen äußerst turbulent.
Diverse Infekte sowie Kreislauf- und Verdauungsprobleme plagten vor allem Christina, die dadurch nicht an Gewicht gewann und den anfänglich erlaubten Gewichtsverlust von 10% längst dramatisch überboten hatte. In den ersten Wochen sank ihr Körpergewicht von 570g auf 475g. Ich traute mich gar nicht mehr, diese Zahl überhaupt jemandem zu nennen.
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