Christina, Band 1: Zwillinge als Licht geboren. Bernadette von Dreien
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Zum Tagesablauf gehörte außerdem das sogenannte «Känguruhen»: Sofern es der momentane Gesundheitszustand zuließ, wurde jeweils eines der Mädchen für eine oder zwei Stunden an meine nackte Brust gelegt, um den Geruch der Mama wahrzunehmen und direkten Hautkontakt zu spüren. Dies war meist eine ziemlich aufwendige Prozedur. Da lag also die Mama, gelegentlich auch der Papa, im Liegestuhl auf der Intensivstation, und Elena oder Christina lagen in Bauchlage auf der Brust, warm zugedeckt und mit sämtlichen Überwachungsgeräten einschließlich dem damit verbunden Kabelsalat. Meistens wurden sie während des Känguruhens ganz friedlich, und ihre Herzfrequenz beruhigte sich. Auch für mich war dies natürlich jedes Mal ein sehr wohltuender und intensiver Moment. Abgesehen davon fanden direkte körperliche Berührungen meist nur über meine Hand statt, die ich durch die kleine Öffnung der Isolette strecken konnte. Allein mit einer Hand vermochte ich eines der Kinder ganz zu bedecken, was ich oftmals während Stunden tat.
Mai 2001: Elenas Ärmchen mit drei Wochen.
Nach sieben Wochen waren beide Mädchen einigermaßen stabil. Nun stand ein beständiges Ringen um jedes Gramm Körpergewicht im Vordergrund, denn dies war entscheidend für die weitere körperliche Entwicklung und für das Überleben. Elena profitierte von einer deutlich besseren Ausgangslage. Sie wies eine gut funktionierende Lungentätigkeit auf und wog nach sieben Wochen bereits rund 1500g. Christina hingegen hatte mit merklich mehr Komplikationen zu kämpfen und wog zum gleichen Zeitpunkt erst 1000g, was einen massiven Unterschied zwischen den beiden darstellte.
Elena hatte also die eindeutig besseren Überlebenschancen, wobei auch sie nach wie vor auf der Intensivstation lag und sich somit näher beim Tod befand als beim Leben.
Wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod ist, wurde deutlich, als Elena einen Erreger einfing, der eine Hirnhautentzündung und in der Folge davon eine Hirnentzündung (Meningoenzephalitis) auslöste. Diese schwerwiegende Komplikation nach so vielen Wochen war auch für die behandelnden Ärzte überraschend. Weitere Mediziner wurden beigezogen, um die Lage von Elena zu beurteilen. In diesen Tagen träumte ich von der Todesanzeige meiner Tochter Elena und wusste im tiefsten Inneren bereits, dass wir sie verlieren würden.
Meine bis dahin ungebrochene Hoffnung, dass sich Elena auch von dieser neuerlichen Komplikation erholen würde, wich nun einer unglaublich traurigen Realität. Die Vorstellung, das eigene Kind in den Tod begleiten zu müssen – oder zu dürfen –, ist wohl die größte Schreckensvorstellung einer jeden Mutter, auch für mich. Doch zugleich war mir bewusst, dass dieser Schritt für Elena eine Erlösung sein würde. Irgendwie war es ihr Schicksal oder gar ihre Bestimmung, nur kurz in ihrem kleinen Menschenkörper zu weilen. Das spürte ich schon damals deutlich, wenngleich ich erst viele Jahre später erfahren würde, warum. Die ganze Situation fühlte sich trotz der Traurigkeit irgendwie richtig an, und ich akzeptierte in meinem Herzen, dass Elena nun ihren eigenen Weg gehen würde.
Zugleich machten uns die Ärzte vorsichtig darauf aufmerksam, dass Zwillinge sich für gewöhnlich sehr nahe stehen und dass der Tod von Elena mit hoher Wahrscheinlichkeit bei Christina zu weiteren problematischen Rückschlägen führen werde. Dies wiederum war für mich eine kaum mehr zu ertragende Schreckensvorstellung. Doch sollten wir alle noch staunen, denn es kam wundersamerweise ganz anders.
Die letzten acht Stunden vor Elenas Tod waren unvorstellbar friedlich. Inmitten meiner Traurigkeit verspürte ich eine tiefe innere Ruhe und ein seltsames Einverstandensein, so dass ich mich selbst wunderte, woher diese Kraft kam. Konnte es sein, dass das Sterben gar etwas Schönes an sich hatte? Es herrschte ein unerklärlicher, für mich noch nie empfundener Friede, eine Schwingung, die ich mit Worten nicht beschreiben kann – so, als wäre der ganze Raum von einer sehr lichtvollen Energie erfüllt, die keinerlei negative Emotionen zuließ. In diesen letzten Stunden legte sich auf Elenas Gesicht ein äußerst friedlicher Ausdruck. Ja, sie schien regelrecht zu lächeln, während sie in unseren Armen lag. Das war keine Einbildung, denn auch das medizinische Personal bestätigte uns, dass sie denselben Eindruck hatten. Unter diesem Lächeln wurde Elenas Herzschlag zunehmend langsamer, bis schließlich am frühen Morgen des 13. Juni 2001 nur noch die Nulllinie auf dem Monitor zu sehen war.
Mit Elenas Ableben erfolgte entgegen den Prognosen der Ärzte erstaunlicherweise keine Verschlechterung des Zustandes von Christina, sondern im Gegenteil eine deutliche Verbesserung, und sie gewann merklich an Kraft. Es schien, als ob Christina durch Elenas Tod gewissermaßen nochmals neu geboren wurde. Genauso empfand es auch das Pflegepersonal. Für mich hatte, trotz der Trauer, somit alles einen verborgenen Sinn, dessen Bedeutung und Auswirkung wir erst viel später erfahren sollten. Denn derselben unbeschreiblichen, tiefen Friedensschwingung würde ich auf beeindruckende Art und Weise wieder begegnen, 15 Jahre später.
Auf uns kamen nebst den inneren Herausforderungen nun auch die üblichen Formalitäten bei einem Todesfall zu, darunter seltsam anmutende Sonderregelungen bei einem so kleinen Kind mit sterblichen Überresten von gerade einmal 1500g. Zunächst wurden wir seitens der Ärzte darauf aufmerksam gemacht, dass wir eine Wahl hatten, was mit den sterblichen Überresten von Elenas Körper geschehen soll. Dass es in einer solchen Situation überhaupt eine Wahlmöglichkeit gibt, war uns nicht bewusst, doch gab es tatsächlich vier Varianten: Die erste Möglichkeit war, den Körper von Elena zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen; die zweite, ihn einfach zu «entsorgen»; die dritte, ihn zu kremieren und in einer Urne beizusetzen, und die vierte, Elena in einem üblichen Grab beizusetzen. Wir waren uns sofort im Klaren: Etwas anderes als ein Begräbnis kam für uns damals nicht in Frage.
Wir suchten uns einen kleinen weißen Sarg aus. Da es für Elenas «Größe» noch keine Konfektionen gab, suchte ich in der Spielwarenabteilung eines Kaufhauses nach einem weißen Kleid und fand schließlich ein schlichtes weißes Barbie-Puppenkleid. Eine wirklich surreale Situation!
Die Todesanzeige in der Zeitung verfasste ich exakt so, wie ich sie einige Tage zuvor geträumt hatte, unter Verwendung derselben Worte: «Wir geben ein kleines, großes Wunder in Gottes Hände. Wir sind dankbar für die Freude, die sie uns bereitet hat. Elena wird uns als Christinas Schutzengel stets in Erinnerung bleiben.»
Diese Worte hätten, wie ich erst 13 Jahre später erfahren würde, kaum treffender gewählt werden können, denn sie sollten sich auf höchst eindrucksvolle Art und Weise bewahrheiten. Auch Elenas Grabstein besteht aus weißem Marmor mit einem eingravierten Engel.
Die Tage danach waren zerreißend. Die anfängliche Freude darüber, dass Christina noch da und bei wachsenden Kräften war, wich nun allmählich einer tiefen Trauer über den Verlust von Elena. Das Leben ging einfach weiter. Wie zuvor kam ich täglich auf die Intensivstation, und fast demonstrativ stand die leere Isolette von Elena noch tagelang neben dem Inkubator von Christina. Es war eine knallharte Tour der Verarbeitung. Aber für mich zahlte sie sich aus, und ich fand Schritt um Schritt wieder den Weg zum Licht. Bald überwog für mich wieder die Freude und die Dankbarkeit darüber, dass Christina noch bei uns war.
Ich hatte mir zuvor schon, angesichts der sterbenden Kinder auf der Intensivstation, Gedanken über das Abschiednehmen gemacht. Ich hatte mir vorgestellt, wie es sich wohl anfühlen würde, ein Kind auf diese Weise zu verlieren – nach einer unglaublich bewegenden, langen Krankengeschichte, die das gesamte innere und äußere