Christina, Band 1: Zwillinge als Licht geboren. Bernadette von Dreien
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Doch so einfach war es nicht. Laut Aussagen der Ärzte war es höchst unwahrscheinlich, ein PEG-Sondenkind nach so vielen Jahren wieder von der Sonde zu entwöhnen, vor allem, wenn es als Kleinkind nie zu essen und zu trinken gelernt hatte. Deshalb riet man uns auch davon ab, einen stationären Sondenentzug in einer spezialisierten Klinik in Graz zu versuchen. Mit ihren sechs Jahren war Christina bereits zu alt dafür, und es drohte die Gefahr, dass sie traumatisiert zurückkäme. Die einzige Möglichkeit bestand darin, den Sondenentzug zu Hause selbst durchzuführen, und wir entschlossen uns, es zu versuchen.
Die ersten zwei Sondenentwöhnungsversuche mussten wir allerdings bereits nach wenigen Tagen abbrechen, da Christinas Körper es nicht geschafft hatte, ohne künstliche Ernährung allein durch ihren Hunger einen normalen Essreflex auszulösen. Ja, sie vermochte nicht einmal ausreichend Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Noch immer schien es irgendwie unnatürlich für das Kind zu sein, durch den Mund zu essen oder zu trinken.
Monate später sah ich per «Zufall» einen Filmausschnitt über ein elfjähriges Mädchen in Amerika, welches es entgegen sämtlichen medizinischen Studien geschafft hatte, von ihrer PEG-Sonde wegzukommen. Meine Motivation für einen dritten Entwöhnungsversuch war geweckt.
Dieser dritte Sondenentwöhnungsversuch im Juni 2007, als Christina bereits das erste Kindergartenjahr besuchte, war dann endlich erfolgreich. Wie die beiden Male zuvor, ließ ich Christina tagelang ohne künstliche Ernährung. Dies war für mich genauso hart wie für Christina selbst, denn welche Mutter kann schon mit ansehen, wie ihr Kind hungert, wirklich hungert? Die Ärzte hatten mich angewiesen, den Versuch sofort abzubrechen, falls das Mädchen mehr als 10% ihres Körpergewichtes verlieren würde. Sie lag nachts stundenlang wach, und für ein Händchen voll Essen benötigte sie rund 40 Minuten, da sie unglaublich lange kauen musste und anfänglich nur mit etwas Wasser Nahrung überhaupt schlucken konnte. Sie war somit fast den ganzen Tag über in enorm kleinen Portionen am Essen und am Trinken. Dennoch besuchte sie jeden Tag den Kindergarten.
Nach zehn Tagen drohte auch dieser dritte Versuch zu scheitern. Nun war meine eigene Schmerzgrenze überschritten. Christina war vor lauter Hunger die ganze Nacht lang wach gelegen und war am Morgen, als sie in den Kindergarten gehen sollte, völlig dehydriert. Ich wusste: Wenn ich sie jetzt hinschicke, wird mich mit Sicherheit umgehend die Kindergärtnerin anrufen und mir besorgt mitteilen, dass Christina bleich und entkräftet in irgendeiner Ecke sitze. Mittlerweile kannte ich ihre Zustände. So warf ich alle guten Vorsätze wieder über Bord und entschloss mich, ihr vor dem Kindergarten doch wieder zwei oder drei Spritzen mit Flüssignahrung zu sondieren.
Das wäre wohl nicht nur das Ende dieses dritten Sondenentwöhnungsversuchs gewesen, sondern zugleich auch das Ende aller unserer Hoffnungen, dass Christina jemals würde normal essen und trinken können. Sollten die Ärzte also doch Recht behalten? War alles nur mein Wunschdenken gewesen?
In diesem Moment war mir bewusst, dass ich keinen weiteren Versuch unternehmen würde. Denn sowohl für Christina als auch für mich stellte diese Prozedur jedes Mal einen enormen Kraftakt dar. Christina würde wohl oder übel für den Rest ihres Lebens mit dieser Bauchsonde leben und irgendwann lernen müssen, sich mit Spritze und Schlauch die Nahrung selbst zu sondieren.
Doch dann kam es zu einem neuerlichen wundersamen Moment. Es war der Morgen des 13. Juni 2007, bemerkenswerterweise exakt der Morgen des sechsten Todestages von Elena, woran ich in dem Moment jedoch nicht gedacht hatte. Gerade als ich enttäuscht und ein wenig widerwillig die Spritze an den Sondenschlauch ansetzte, um damit den Entwöhnungsversuch definitiv abzubrechen, ergriff die Sechsjährige das Wort. Als ob Christina meine traurigen Gedanken gelesen hätte, wandte sie sich mit klarer, bestimmter Stimme an mich: «Du musst mir nichts sondieren, Mama!»
Mein «Aber …» kam ziemlich schnell.
Doch Christina sprach ruhig und mit Nachdruck weiter: «Nein, Mama, du musst mir nichts sondieren. Du wirst mir überhaupt nie mehr etwas sondieren müssen.»
Die Aussage war klar und deutlich, und ein sonderbarer Ernst lag in ihrer Stimme. Die ganze Situation war höchst seltsam. Wie konnte eine Sechsjährige derart weitreichende und entscheidende Worte in den Raum stellen, noch dazu in einem ausgehungerten, schwachen Zustand, in welchem wohl jedes andere Kind nur noch trotzen, schreien und toben würde? Eine solche klare Aussage nach jahrelanger mühsamer Ernährung über einen Schlauch – wie konnte das möglich sein?
Da mich Christina weder je angelogen noch jemals eine Situation falsch eingeschätzt hatte, glaubte ich ihr auch in diesem Moment und ließ sie wie gewünscht ohne Nahrung die rund 150 Meter bis zu jenem Platz laufen, wo der Schulbus sie abholte und in den Kindergarten brachte. Manch Außenstehender hätte wohl angemahnt, dass dieses Verhalten völlig verantwortungslos sei, doch irgendwie vertraute ich meiner kleinen Tochter.
Christina sollte Recht behalten. Im Nachhinein kann man wohl sagen, dass dieser 13. Juni 2007 nicht nur Elenas sechster Todestag war, sondern auch der Tag, an dem Christinas Seele endlich vollständig in ihrem Körper ankam. So jedenfalls erklärte Christina es mir Jahre später selber.
Die PEG-Sonde blieb anschließend noch für weitere drei Monate in Christinas Bauchdecke, bis sichergestellt war, dass es zu keinem Rückfall mehr kommen würde. Dann endlich konnte sie entfernt werden. Es dauerte danach zwar noch einige Jahre, bis das Mädchen jegliche Nahrungskonsistenz problemlos essen konnte, doch im Alter von etwa zehn Jahren hatte sich alles normalisiert, und seitdem legt sie ein sehr genüssliches, natürliches Essverhalten an den Tag. Heute deutet nur noch eine Narbe in Magenhöhe – wie ein zweiter Bauchnabel – auf diese schwierigen Umstände in Christinas ersten Lebensjahren hin.
September 2007: Mit 6½ Jahren wird Christina von ihrer PEG-Sonde befreit. Mario ist zu diesem Zeitpunkt knapp 4 Jahre alt, und beide sind gleich groß und in ihrer körperlichen Entwicklung etwa gleich weit.
6
Christinas Schulzeit
Bei den Einschulungstests im Kinderspital hatte Christina ziemlich schlecht abgeschnitten, so dass man uns mitteilte, dass das Mädchen kaum die normale Grundschule werde besuchen können. Aber ich ließ mich nicht verunsichern, denn ich kannte meine Tochter. Fremden gegenüber zeigte sie stets eine gewisse Zurückhaltung, was sich wohl auch auf die Testergebnisse ausgewirkt hatte. Während sich ihr Verständnis der Zahlenreihen deutlich unterdurchschnittlich zeigte, schnitt sie beispielsweise bezüglich Menschenkenntnis massiv überdurchschnittlich ab. Doch die Menschenkenntnis gehört bei uns nicht zu den relevanten schulischen Anforderungen.
Einige der Ergebnisse ihrer Einschulungstests erschienen rätselhaft und unlogisch, denn niemand verstand damals, dass Christina über außergewöhnliche Wahrnehmungen und Begabungen verfügte, auch ich nicht.
Wir schickten das Mädchen also in die erste reguläre Klasse mit der Option, dafür gegebenenfalls auch zwei Jahre beanspruchen zu können. Dazu kam es nicht, und in der Folge absolvierte sie problemlos alle Stufen der normalen Primar- und Sekundarschule.
Christina zeigte sich gemäß Aussagen ihrer Lehrer stets als ungewöhnlich ruhige, fast schüchterne Schülerin, allerdings mit einer hohen Lernbereitschaft, mit großer Ausdauer und mit einem ausgezeichneten Konzentrationsvermögen. Ihre Mitschüler schätzten ihre liebevolle