Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche. Indrek Hargla
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»Eine furchtbare Geschichte!«, seufzte Ratsherr Bockhorst und schüttelte sich. »Aber zum Glück hat unsere Stadt einen so tüchtigen Gerichtsvogt wie Herrn Wentzel Dorn, der den Mörder finden wird, und sei es unter der Erde.«
Sonst ist sein Kopf der nächste, der aufgespießt wird, dachte der tüchtige Gerichtsvogt Wentzel Dorn.
»Der Orden hofft inständig, dass der Mörder sehr bald gefunden wird«, merkte der Bote wichtigtuerisch an. »Aber das wird der Komtur selbst genauer erläutern. Bevor der Komtur seinen Willen nicht kundgetan hat, darf in der Stadt nicht über den Fall gesprochen werden. Gerüchte schaden nur.«
Was du nicht sagst, dachte der Gerichtsvogt. In einer Stadt mit einem Markt war ein Ratsausrufer überflüssig, die Stadt wusste schon alles vorher.
Als er später mit dem Ordensdiener die Rathaustreppe hinunterstieg, fragte er, ob der Komtur denn auch ein Kopfgeld ausgesetzt habe.
»Das muss die Stadt wohl selbst aussetzen«, meinte der Diener. »Auf dem Stadtgebiet können wir nichts ausrichten.«
»Eine üble Sache«, seufzte Dorn.
»In der Tat, eine üble Sache«, sagte der Diener und seufzte ebenfalls. »Die ganze Nacht herrschte auf dem Domberg ein heilloses Durcheinander. Es versteht sich von selbst, dass der Komtur nicht erpicht ist, dem Ordensmeister mitzuteilen, dass einem hohen Ordensritter der Kopf abgeschlagen und ihm dazu noch eine Münze in den Mund gestopft worden ist und dass der Mörder in die Stadt geflohen und nach wie vor auf freiem Fuße ist. Nein, ganz bestimmt nicht ...«
»Eine Münze? Was für eine Münze?«, fragte Dorn überrascht.
»Ich weiß nicht, was für eine Münze, jedenfalls fiel die aus Clingenstains Mund, als sie seinen Kopf vom Haken nahmen. Der Kopf war nämlich aufgespießt.«
»Da hat sich der Mörder wahrlich angestrengt«, brummte Dorn.
Der Ordensdiener blieb plötzlich vor der Rathaustüre stehen. Er sah unschlüssig zu Dorn hinüber. »Nun«, er zögerte, »eigentlich hat der Komtur verboten, von der Münze zu erzählen. Vielleicht könnte der Gerichtsvogt die Sache so lange vergessen, bis der Komtur selbst die Sprache darauf bringt.«
»Abgemacht«, knurrte Dorn und verabschiedete sich von dem Ordensdiener. Aber dann entschloss er sich doch, Melchior aufzusuchen, denn ein ordentlicher Schnaps gegen seine Bauchschmerzen würde ihm gut tun und soweit er wusste, hatte sein Freund, der Apotheker, eine gute Spürnase, wenn es darum ging, Mörder ausfindig zu machen. Wenn Melchior vergangenes Frühjahr nicht aufgedeckt hätte, wer jenen flämischen Ketzer erwürgt hatte, würde die Täterin noch heute eine angesehene, ehrenwerte Dame der Stadt sein. Der Rat war sicherlich damit einverstanden, wenn Melchior von Dorn zu seinem Untervogt bestimmt werden würde.
Kapitel 3
Königsstraße, Haus des Goldschmieds Casendorpe 16. Mai, Morgen
Der Oldermann der St. Kanutigilde, Goldschmiedemeister Burckhart Casendorpe, war es nicht gewohnt, aufregende Neuigkeiten aus dem Munde seiner Tochter zu hören. Gewöhnlich hörte er sie von den Gesellen in der Werkstatt oder von den anderen Meistern im Gildehaus. Je nachdem, was für erschütternde Neuigkeiten in Reval die Runde machten. Meister Casendorpe konnte man nicht als neugierigen Menschen bezeichnen. Der Beruf des Goldschmieds war zu bedeutend und ehrwürdig, als dass nebenbei viel Zeit geblieben wäre über Stadtangelegenheiten zu diskutieren oder zum Zeitvertreib einen Schwatz zu halten. Als Oldermann der St. Kanutigilde hatte er mehr als genug zu tun – mit der Pflege der Gildenaltare, der Einberufung von Zunftversammlungen, der Wartung der Kasse, der Fürsprache für die Meister und anderen Dingen. In den dreiundvierzig Jahren von Herrn Casendorpes Leben – von denen er dreißig in Reval verbracht hatte – hatten Gold- und Silberarbeiten immer im Mittelpunkt gestanden. Was für Zeiten auch herrschten, Krieg oder Hungersnot oder Pest – Gold blieb bestehen, wie auch das Verlangen der Menschen nach Gold bestehen blieb. Gold ernährte den Menschen. Gold war das Symbol für Macht und Reichtum dieser Welt. Reiche Männer brauchten Goldschmuck. Wenn sie kein Gold vorzuzeigen hatten und ihnen kein Gold um den Hals hing, hielt sie niemand für reich oder wichtig. Und darum war ein Goldschmied ein geschätzter Mann. Als Burckhart Casendorpe zum Oldermann der St. Kanutigilde gewählt wurde, musste er sich zu seinem Missfallen mit Dingen auseinandersetzen, die ihm zwar nicht am Herzen lagen, ihn aber zu einem wichtigen, sogar sehr wichtigen Stadtbürger machten. Und seine einzige Tochter zu einer der begehrtesten Bräute Revals.
Jetzt aber stand seine achtzehnjährige Hedwig am Fenster der Meisterstube und verkündete haarsträubende Neuigkeiten:
»Und ganz und gar in Stücke gehauen haben sie den Ritter auf dem Domberg. Arme und Beine ab! Vollkommen zerstückelt!«
Hedwig war am Morgen mit der Mutter auf dem Markt gewesen. Was bedeutete, dass sie das Neueste gehört hatte.
»Leiser, Mädchen, leiser«, raunte Casendorpe und sah sich misstrauisch in der Werkstatt um, wo seine Gesellen so taten, als seien sie mit der Arbeit beschäftigt und hörten nicht zu, welche furchtbaren Neuigkeiten die Tochter dem Goldschmiedemeister brachte. Es schickte sich nicht, dass junge Mädchen über solche Dinge sprachen.
»Vater, das ist doch unglaublich! Grauenhaft!«, rief Hedwig.
»Ja«, pflichtete der Goldschmied bei. »Das ist es wohl.« Er nahm seine Brille von der Nase und runzelte die Stirn. Die Arbeit des Goldschmieds musste für die Stadtbevölkerung sichtbar vonstatten gehen – damit jedermann sehen konnte, dass er das edle Metall nicht beschädigte. Deshalb verlangte der Rat, dass das Haus des Goldschmieds zur Straße hin ein großes Fenster habe, durch das in das Innere der Werkstatt zu sehen sei. Seine Kunden bediente Casendorpe durch das offene Fenster, an dem ein Tisch stand und neben dem Tisch ein Regal mit Gegenständen, die zeigten, dass der Goldschmied ein ehrwürdiger, reicher und in allerlei Geheimnisse eingeweihter Mann war. Auf dem Regal hatte er Haifischzähne, eine Kokosnussschale, eine Koralle, Pfauenfedern, einen Bernsteinklumpen, Papageienfedern, eine getrocknete Krabbe und andere bedeutungsvolle und magische Dinge aus fernen Ländern ausgestellt, die er von Händlern für viel Geld gekauft hatte. Dass es im Winter an seinem offenen Fenster kalt würde, das brauchte man nicht zu fürchten. In der Meisterstube gab es eine große Feuerstelle und einen Schmiedeherd, wo der Lehrling das Feuer ständig schürte, wenn gearbeitet wurde.
Hedwig stand aber am Fenster und rief, dass auch die Gesellen in der Werkstatt die Köpfe wandten: »Vater, aber das ist doch der Ritter, dem du gestern diese Kette verkauft hast! Stell dir nur vor, ach gütiger