Seele auf Eis. Reiner Laux

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Seele auf Eis - Reiner Laux Klarschiff

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mehr allein, ich trug Verantwortung nicht nur für mich, sondern auch für Cheyenne.

      Ich musste Cheyenne schnellstmöglich sprechen, sie beruhigen und gemeinsam mit ihr die Situation klären. Im Falle einer Flucht wäre das unmöglich. Sie wussten bestimmt, wenn sie schon so viel wussten, dass Cheyenne meine einzige wirkliche Nabelschnur, meine einzige abhängige Verbindung zum Leben war. Somit würden sie im Falle meiner Flucht als Erstes über sie herfallen und sie mit Lügen und Drohungen bestürmen. Ich dagegen konnte, auf der Flucht und abgeschirmt, nicht einmal auf eine solche Situation einwirken. Sie würde in der Spannung zerrissen werden, unter Druck gesetzt von der Polizei und zerquält in der Ungewissheit über mich und die Rechtmäßigkeit der Anklagen und zudem den wütenden Angriffen und Vorwürfen ihrer Mutter ausgesetzt.

      Außerdem wären Cheyenne und ich im Falle einer Flucht zerstört. Wir würden, ohne Gefahr, niemals mehr zusammen sein können.

      Das ganze Gewitter war in nur wenigen Momenten durch mich hindurch getobt. Meine drei Beamten saßen, unverändert schwatzend und rauchend, auf dem grünen Sofa und ahnten nicht, welches Damoklesschwert für einen Moment über ihnen geschwebt hatte. Für einen Moment hatte ich die Macht über sie und meine Freiheit in Händen gehalten, nun hatte ich mich freiwillig in ihre Macht zurückbegeben. Eine tiefe Niedergeschlagenheit ergriff mich. Ich stieß mich seufzend von dem Türpfosten ab, ließ mich nach vorne fallen und schlenderte auf meine drei Begleiter zu.

      Eine Stunde später begann das Auslieferungsprozedere, bei dem mir ein Richter mit seinen beiden Beisitzern den internationalen Haftbefehl und das Auslieferungsersuchen des deutschen Staates eröffnete, über das in den nächsten Monaten entschieden werden würde, was nur eine Formsache sei.

      Meine drei Begleiter legten mir wieder die Handschellen an. Wir verließen das Gerichtsgebäude und traten auf die sonnendurchflutete Straße, die voller geschäftiger Menschen war. Ich ging aufrecht durch sie hindurch. Wieder schien niemand meinen gefesselten Zustand wahrzunehmen. Eine tiefe Niedergeschlagenheit erfasste mich, als ich wieder neben dem Jüngesten im Wagen saß. Ich wusste, ich hatte die Wahl der Entscheidung gehabt, und doch hatte ich letztlich keine Wahl gehabt. Die Tragikomik lag darin, dass ein Freiheitsmensch wie ich, der niemals für sich allein eine solche Gefangenschaft angenommen hätte, mich für ein so vergängliches und zerbrechliches Geschöpf wie die Liebe freiwillig wieder in diese Gefangenschaft begeben hatte. Ich musste bitter grinsen, war ein wenig stolz, vor allem aber presste mich eine düstere, ausweglose Trostlosigkeit in den Wagensitz.

      Die Stunde des Sonnenuntergangs leuchtete in rotblaugoldenen Tönen durch die Straßen Lissabons, während wir in dem verriegelten Benz zurück zum Polizeigefängnis glitten. Hungrig saugte ich das vertraute Licht und Farbenspiel des Lissabonner Abends auf, das ich für lange Zeit nicht mehr sehen sollte.

      Plötzlich erklang aus dem Autoradio Sinead O’Connor’s „Nothing Compares To You” und ich sah das Gesicht von Cheyenne vor mir aufleuchten. „Nein, niemals wird es etwas geben wie dich!“, lächelte ich trotzig in die hereinbrechende Nacht, während mich der Benz unaufhaltsam in das ewige Dunkel der Massenzelle zurücktrug.

      Natürlich wird im Knast immer wieder mal über Ausbruch und Flucht schwadroniert und auch so manches geplant. Meistens bleibt es aber dabei. Die Pläne behandeln zumeist Fantasien die nie realisiert werden und deren Funktion darin besteht, der Knastmonotonie zu entfliehen und den Leidensdruck zu lindern. Selten finden wirkliche Ausbruchsversuche aus den geschlossenen Anstalten statt. Die häufigsten Fluchtversuche werden bei begleiteten Ausführungen unternommen, bei denen der ungefesselte Gefangene nicht von der Toilette zurückkommt oder in der Fußgängerzone untertaucht. Oder aber ein Häftling kommt von einem unbegleiteten Ausgang oder aus dem Hafturlaub nicht zurück. In den meisten dieser Fälle werden die Flüchtigen bei den angegebenen Besuchsadressen der Entflohenen – der Familie oder bei der Freundin − wieder eingesammelt, oder sie stehen nach kurzer Zeit wieder vor dem Gefängnistor, weil sie nicht wussten wohin und was sie mit einer Freiheit auf der Flucht anfangen sollten.

      Natürlich kommt es auch immer wieder zu spektakulären Gefängnisausbrüchen und es gibt sogenannte „Ausbrecherkönige”, willensstarke, kreative Häftlinge, denen wiederholt die Flucht gelingt. Unter den Ausbruchsmethoden ist das Durchsägen der Gitter (mit einem hereingeschmuggelten Sägeblatt) mit nachfolgendem Überwinden der Mauer (mittels verknoteten Betttuchtauen) der Klassiker. Des Weiteren ist die Flucht über Belüftungs-, Heizungs- und Kanalisationssysteme beliebt. Wenn sinnvoll und möglich wird auch schon mal ein Tunnel gegraben. Weniger aufwendig ist die Flucht versteckt in den Fahrzeugen externer Dienstleister (Müll-, Transportunternehmen), mal mit, mal ohne das Wissen der Fahrer. Am bequemsten lässt sich der Gefangenschaft mithilfe von einzelnen Beamten entfliehen (die entweder bestochen sind oder aber der Liebe zu einem Gefangenen wegen alles riskieren). Am brutalsten und am wenigsten erfolgreich ist der Ausbruchsversuch über eine Geiselnahme von Anstaltsbeamten. Aus isolierten Häftlingsanstalten wie Gefängnisinseln oder Strafkolonien, von denen es früher bedeutend zahlreichere gab, kommen bei Fluchtversuchen kleine Boote oder selbstgebastelte Flöße zum Einsatz.

      Grundsätzlich ist die Flucht aus einem Gefängnis in Deutschland straffrei, da jedem Menschen ein natürlicher Freiheitsdrang zugestanden wird. In der Praxis hat die Flucht für einen wieder eingefangenen Häftling zur Folge, dass seine Haftbedingungen verschärft werden (Verlegung in ein Gefängnis mit höheren Sicherheitsstandards, verstärkte Kontrollen, Ausschluss von Freizeitgruppen, verminderte Aussichten auf vorzeitige Entlassung). Verfolgt werden natürlich jene Straftaten, die im Zusammenhang mit einer Flucht möglicherweise begangen werden – wie Freiheitsberaubung (im Fall einer Geiselnahme), Körperverletzung (bei einem Angriff auf einen Beamten), Bestechung (eines Beamten), Sachbeschädigung (Zersägen der Gitter, Aufbruch der Wände oder Untertunnelung), Diebstahl (der Gefängniskleidung). Ein kollektiver gewalttätiger Ausbruch wird als „Gefangenenmeuterei” geahndet und sanktioniert. Zudem wird Fluchthilfe strafrechtlich verfolgt.

      Das einzige reale Fluchtvorhaben, das ich in der Gießener JVA erlebte, war der dilettantische Versuch zweier Deutschrussen, die während ihrer Tätigkeit als Hofreiniger zwei verknotete Bettlaken aus ihrer mobilen Abfalltonne zogen. Sie warfen die vermeintlichen Freiheitstaue über die NatodrahtRollen, die die mehrere Meter hohe Gefängnismauer krönte, und hangelten sich die Mauer hinauf, über deren Kante sie sich aber leider mitsamt der Bettlaken in den Drahtrollen verhedderten und von herbeigeeilten JVA-Beamten befreit werden mussten.

      In Köln träumte ein deutsch-kolumbianischer Kokaingroßdealer, der 15 Jahre abzusitzen hatte, jahrelang von einem von außen inszenierten Befreiungsversuch, bei dem ihn in seiner Fantasievorstellung ein Mafia-Hubschrauber in die Freiheit entführen würde. Um für potentielle Befreier erkenntlich zu sein, hing immer ein kanariengelbes T-Shirt in seinen Gittern. Der Hubschrauber kam nie.

      Zwei Gefangene, die im Kölner Knast in der Einzelzelle unter mir gelegen hatten, ein Albaner und sein türkischer Zellenkollege, warteten nicht auf Hilfe von außen. Sie durchsägten die Gitter ihrer Zelle mit einem hereingeschmuggelten Sägeblatt − im Knastjargon „Engelshaar“ genannt − und überwanden Zaun und beide Mauern. Sie wurden nicht gefasst. Anders als deutsche Gefangene hatten sie wahrscheinlich draußen ein funktionierendes Netzwerk (Großfamilie, Bekannte), die sie in ihre Herkunftsländer schleusten, in denen sie dem Zugriff der deutschen Behörden entzogen waren.

      In Köln saß auch eine Zeit lang Hans-Jürgen Rösner, der Kopf der beiden „Gladbecker Geiselmörder“, in meinem Hafthaus ein. Rösner verhalf durch seinen 1988 gescheiterten Banküberfall mit folgender Geiselnahme und Mord nicht nur sich selbst, sondern auch der zuständigen Polizei und vielen Pressevertretern zu beschämender Bekanntheit. Die Verfolgung der Beiden war von massiven Polizeipannen begleitet. Und immer dabei: die Pressehyänen, die sensationslüstern durch wohlwollende Interviews mit den Geiselnehmern diese in ihrem Tun noch bestärkten, während zur selben Zeit die beiden weiblichen Geiseln mit an den Kopf gehaltener Pistole Todesängste ausstanden.

      Für

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