Seele auf Eis. Reiner Laux

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Seele auf Eis - Reiner Laux Klarschiff

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sahen Rösner als ganz große Nummer an und begegneten ihm mit einer Art schaurigem Respekt. Für mich war er ein feiger Mörder, der sich hinter wehrlosen Geiseln versteckt hatte, nachdem er sich als zu dämlich erwiesen hatte, zu zweit eine kleine Bankfiliale auszurauben. Rösner, mittlerweile stark verfettet, war in meinem Hafthaus als Hausarbeiter angestellt. Er verteilte Seife und Klopapier und stand beim Sommerfest in rotkarierter Schürze mit einer großen Zangengabel in der Hand („Darf’s noch ein Würstchen sein?“) auf dem Gefängnishof hinter dem Kohlegrill. Er war quasi „auf Bewährung“ innerhalb der verschiedenen Gefängnisformen aus einer Hochsicherheitsanstalt in unser Hafthaus der Sicherheitsstufe 1 verlegt worden. Da er in der Freistunde aber jedem, der es hören wollte, etwas von Flucht und hereingeschmuggelten Kanonen erzählte, wurde er bald in eine stärker gesicherte Haftanstalt zurückgeschickt.

      Im Remscheider Knast gelang einem jungen türkischen Kampfsportmeister die Flucht. Er hatte wie auch viele andere Gefangene gesehen, dass ein Baugerüst innerhalb des Knastkomplexes so nah an der Gefängnismauer aufgebaut worden war, dass ein durchtrainierter, entschlossener Gefangener sie mit einem Sprung erreichen konnte. Bei einem Gang von seinem Arbeitsplatz zu einem inszenierten Arzttermin in einem anderen Hafthaus entsprang er seinem beamteten Begleiter, hechtete das Gerüst hoch und schwang sich auf die Mauer, auf deren anderer Seite ihn seine Komplizen erwarteten. Auch er wurde nicht gefasst und ist wahrscheinlich in seiner Geburtsstadt Istanbul untergetaucht.

      So sehr Fluchtpläne jeden Gefangenen immer mal wieder umtreiben − sei es als Gedankenspielerei zur inneren Selbstbefreiung wie zur Linderung des Leidensdrucks, sei es als reales Vorhaben − so schwirren in zugespitzten Situationen auch immer mal wieder Gerüchte über Rebellion und Aufstand durch die Zellen und Gefängnisgänge.

      In der Lissabonner Massenzelle konnte ich eine Gefangenenrebellion erleben, die über Absichtserklärungen hinausging. Die erlebte Rebellion trug, im Gegensatz zu den blutigen Gefangenenaufständen in beispielsweise lateinamerikanischen Knästen, wo es regelmäßig zu Toten und Verletzten kommt, eher Züge einer komischen Seifenoper.

      Eines Märzabends, während der Nachrichten, breitete sich plötzlich helle Unruhe in der Zelle aus. Es wurde bekanntgegeben, dass für die Gefangenen der MF25, der früheren portugiesischen Stadtguerilla, die sich immer mehr zu einer Terrorgruppe entwickelt hatte, im Parlament eine Amnestie diskutiert wurde, insofern sie nicht in Bluttaten verwickelt gewesen waren. Gefangene der großen Gefängnisse hatten darauf die Forderung gestellt, dass, im Zuge der Gleichbehandlung, alle Gefangenen in Portugal, die nicht mit Bluttaten in Verbindung standen, amnestiert werden sollten. Zur Unterstreichung ihrer Forderungen hatten sie mit Arbeitsverweigerung und Hungerstreik gedroht.

      Die MF25 war einst vom legendären militärischen Kopf des portugiesischen Umsturzes der Hauptleute vom 25. April, dem charismatischen Redner und Führer der Nelkenrevolution, Otelo de Carvalho, gegründet worden. Zu einer Zeit, als die Restauration begonnen hatte, die Errungenschaften der Revolution wieder zurückzuschrauben. Otelo wurde infolge zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt und die damalige politische Führung hatte in neuerer Zeit zugegeben, dass nicht er als Person, sondern als Symbol für antirestaurative Unruhe und Aufruhr verurteilt worden war. Ob und inwieweit er an terroristischen Anschlägen als planerischer Kopf beteiligt gewesen war, ist nie bewiesen worden. Er lebte nach der Haft mit seiner Familie zurückgezogen vor Lissabon in einem kleinen Anwesen, gab seltene Interviews und schrieb Bücher.

      In der Zelle entbrannte die Diskussion, ob man an einem möglichen Hungerstreik teilnehmen sollte. Alle waren sich einig und die 90 % meiner trunkenen Leidensgenossen, deren Fälle nicht mit Gewalt in Berührung standen, sahen sich schon in nächster Zukunft die Schwelle zur Freiheit überschreiten. Meine Mitgefangenen erklärten unisono, ich bräuchte nicht beim Streik mitzumachen, da ich mit meinem Fall in Deutschland ja nichts mit der Amnestie zu tun hätte. Ich bedeutete ihnen, dass ich mich um ihre Betreuung − Versorgung mit Teegetränken, kleine Sportübungen – kümmern würde.

      Die Tage vergingen mit täglichen Nachrichten über eine mögliche Amnestie und hitzigen Spekulationen über einen kommenden Hungerstreik. Die Diskussionen entwickelten sich über das gesamte Gefängnis und wurden während des Hofgangs auch mit den Insassen der anderen Zellen geführt, die noch überwiegend unschlüssig waren. Die Entscheidung in unserer Zelle war gefallen. Sollte ein Hungerstreik, ausgehend von den großen Lissabonner Gefängnissen, beginnen, würde unsere Zelle daran teilnehmen.

      Neben mir wollte auch ein junger Junkie nicht am Streik teilnehmen; weniger aus Furcht vor Gewichtsverlust, sondern weil er sich fürchtete, seine Mutter nicht bei den Besuchen sehen zu können, die die Anstalt mit Sicherheit für die Teilnehmer des Aufstands streichen würde.

      Dienstagvormittag erschien die Gefängnisdirektorin in der Zelle, um mit uns über einen möglichen Streik und seine Auswirkungen zu sprechen; besser, um einen Vortrag darüber zu halten. In verschlossenem langen Mantel und damenhafter Zurückhaltung stand sie vor uns, die Gefangenen in Hufeisenform um sich geschart, und versuchte uns in gönnerhafter Abgeklärtheit und Weitsicht einen möglichen Hungerstreik auszureden. Sie erklärte sich in einer geschickt ausgewogenen Mischung aus inständigen Bitten, gutmütterlichen Ratschlägen, unverhohlenen Drohungen und in Aussicht gestellten Sanktionen. Mutter Senhora Directora Teresa forderte uns eindringlich auf, zu unserem eigenen Wohl von einem Hungerstreik abzusehen. Sie machte sich große Sorgen, dass wir voreilige Entscheidungen treffen könnten, die wir später bereuen müssten. Sie führte weiter aus, dass ein Hungerstreik natürlich automatisch dazu führen müsste, dass die Besuche gestrichen würden, ebenso wie Telefonate und die Annahme von Paketen. Außerdem könnte sie Nachteile in den kommenden Prozessverfahren nicht ausschließen, da eine Teilnahme an dem Hungerstreik natürlich Eingang in die Akten finden würde.

      Ihre Stimme wurde wieder mütterlich besorgt und sie wiederholte ihre wohlwollende Bitte, im eigenen Interesse von einem Hungerstreik abzusehen. Um Wankelmut zu fördern, führte sie abschließend an, dass alle anderen Zellen nicht an einem ohnehin unwahrscheinlichen Hungerstreik teilnehmen würden. Natürlich war sie darüber informiert, dass in unserer Zelle die Entscheidung für den Streik gefallen war.

      Als Senhora Directora gegangen war, erlebte ich eine Veränderung unter den Gefangenen. War Ihre Exzellenz bisher für fast alle Gefangenen eine unantastbare und fast heilige Autorität gewesen, änderte sich das nun. Der heuchlerische Auftritt war von den meisten Gefangenen auch als solcher erkannt worden. Der Auftritt der Direktorin hatte die Gefangenen in ihrer Entscheidung für den Streik noch bestärkt. In der Zelle breitete sich ein euphorisches Gefühl der Solidarität aus. Man fühlte sich als ein verschworener Haufen, als einsame Helden, Schulter an Schulter, in einem aufrechten Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit, umgeben von einem Meer aus Feindseligkeit und Feiglingen.

      In stolzgeschwellter Ausgelassenheit schnatterten die Gefangenen wild durcheinander. Sie waren auf einmal wer und wie zum Nabel der Welt geworden, die sich wieder zu drehen schien. Überall in der Zelle wurde gelacht und gescherzt. Es gab keine Unterschiede mehr, jeder sprach mit jedem und alle versicherten einander Treue, Durchhalten und Kampf bis zum Letzten, während Primitivo von einem zum anderen lief, allen lachend auf die Schulter schlug und jedem erklärte, dass man denen endlich mal zeigen würde was eine Harke ist.

      Wir folgten gespannt den Fernsehneuigkeiten. Der Streik in den großen Lissabonner Gefängnissen begann und breitete sich schnell über das ganze Land aus. In den Nachrichten wurden Außenaufnahmen vom großen Stadtgefängnis in Caxias gezeigt, auf denen weiße Laken mit Streikparolen vor den Fensteröffnungen flatterten. Dahinter versuchten wild gestikulierende Gefangene mit Zurufen ihre Angehörigen zu erreichen, die nach Streichung aller Besuche aufgebracht vor den Gefängnismauern ausharrten. Unsere Zelle hatte sich am Tag des Streikbeginns geschworen, noch einmal tüchtig zu essen und alle Vorräte aufzubrauchen und sich am folgenden Tag dem Streik anzuschließen.

      Am kommenden Morgen blieb die Frühstückskiste mit den Brötchen gefüllt, nur das heroinsüchtige Muttersöhnchen und ich bedienten uns. Wir saßen taktvoll

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