Das späte Glück. Dietmar Grieser
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Ein Problem, das nun freilich auch zu lösen ist, ist die Frage: Was soll man da eigentlich noch in Österreich, in Wien? Das Ehepaar von Nissen rüstet zur Übersiedlung in die Heimat des Gatten. Im vertrauten Kopenhagen, so ist sich der erst achtundvierzigjährige Exdiplomat sicher, wird er eher als im von Napoleons Truppen besetzten Wien eine Betätigung finden, die sich mit seiner schwer angeschlagenen Gesundheit vereinbaren läßt.
Constanze zerbricht sich derweil den Kopf darüber, was von dem vielen Hausrat den Weg nach Kopenhagen mit antreten soll. Am schwersten fällt ihr die Trennung vom alten Mozart-Klavier, das bisher jeden Wohnungswechsel mitgemacht hat: Sohn Carl, der diesbezüglich Interesse angemeldet hat, soll es bekommen. Zehn Dukaten für die Verpackung und fünf für den Transport berechnet der Spediteur, der die Überstellung nach Mailand abwickelt. Und damit »Wowi«, der jüngere der Mozart-Söhne, nicht eifersüchtig wird, wird Carl das Versprechen abgenommen, er werde seinem Bruder gegenüber behaupten, das kostbare Stück sei mit nach Kopenhagen gegangen.
Die Übersiedlung der Eheleute nach Dänemark hat eine mißliche und eine gute Seite: Momentan schlecht bei Kasse, können sie sich keinen eigenen Wagen leisten, sondern müssen sich, zusammen mit allerlei fremdem Volk, mit der Postkutsche begnügen. Dafür aber kommen die beiden auf der langen, von vielerlei Aufenthalten in Landgasthöfen unterbrochenen Reise einander näher als je zuvor: Die vielen neuen Gesichter und die ständig wechselnden Herbergen – da zieht man sich umso mehr zurück, sucht beim Partner Geborgenheit.
Kopenhagen nimmt nicht nur den Landsmann, sondern auch dessen Gefährtin herzlich auf, Nissens Freunde von einst stehen bereit, dem Paar unter die Arme zu greifen, und auch der erhoffte Posten für den nunmehrigen Herrn Etatsrat findet sich alsbald: Als Zensor der politischen Blätter bezieht er zwar nur einen geringen Sold, doch dafür strengt ihn das Zerpflücken der Zeitungen nicht stärker an, als es seiner angeschlagenen Physis zuträglich ist.
Die Wohnung in der Lavendelgasse, die nun für über zehn Jahre ihre Lebensmitte bilden wird, ist zwar bescheiden, doch kann man sich immerhin für die Hausarbeit eine Magd leisten, und da an derselben Adresse ein Traiteur werkt, der seinen Kunden zu erschwinglichen Preisen die fertigen Mahlzeiten in die Wohnung liefert, fällt es auch nicht weiter ins Gewicht, daß Constanze noch immer nicht kochen kann.
Auch fürs Musikalische ist vorgesorgt: Bis man daran denken kann, bei einem der Wiener Instrumentenmacher ein neues Klavier zu bestellen, begnügt man sich mit einem Clavichord, das Constanze bei ihren täglichen Stimmübungen unterstützt. Und was die Mozart-Witwe ganz besonders freut: Auch in Kopenhagen werden Wolferls Werke aufgeführt, ja die Verehrung für den nun schon seit drei Jahrzehnten Toten nimmt solche Formen an, daß einer der reichen Kaufleute der Stadt, als er Vater eines Sohnes wird, den Neugeborenen auf den Vornamen Mozart taufen läßt.
Jetzt wird allmählich auch die Zeit reif, ein Projekt anzugehen, das für Nikolaus von Nissen seit Jahr und Tag ein Herzenswunsch ist: Er hat vor, die noch immer ausständige große Mozart-Biographie zu schreiben. In Schachteln und Mappen, Briefumschlägen und Stößen von Heften liegt das sorgfältig gesammelte, kopierte und wohlgeordnete Material bereit, eine Batterie gespitzter Schreibfedern wartet auf dem Sekretär des Archivzimmers nur darauf, ins Tintenfaß getaucht zu werden. Zuvor aber gehen noch Bittbriefe in großer Zahl an all jene Adressen, die weitere Details über Leben und Werk des Meisters verheißen, und vor allen anderen ist es klarerweise Constanze, die sich mit Fragen löchern lassen muß – Fragen, auf die sie, die notorisch Vergeßliche und von Natur aus Unordentliche, nicht immer eine Antwort weiß.
Was dem ehrgeizigen Unternehmen des übergenauen, ja pedantischen Nissen entgegensteht, ist dessen rapid sich verschlimmerndes Herzleiden: Nur mit größter Überwindung vermag Constanze die vom Arzt verordneten Prozeduren auszuführen – etwa, wenn dieser seinem Patienten zumutet, sich zur Linderung der Krämpfe abwechselnd siedend heißes und eiskaltes Wasser auf die Brust gießen zu lassen. Ob es da nicht vielleicht doch besser wäre, nach Österreich zurückzukehren und von Salzburg aus den Kurort Gastein anzupeilen, von dessen Heilkräften man seit einiger Zeit wahre Wunderdinge hört?
Sommer 1821. Das Haus in Kopenhagen wird verkauft, via München reist das Ehepaar Nissen zur Kur nach Gastein; beim Straubinger, dem ersten Haus am Platze, sind zwei Zimmer frei. An das Toben des Wildbaches, das auch durch die geschlossenen Fenster dringt, gewöhnt man sich rasch. Die verordneten Bäder tun dem Patienten gut: Wenn er von den Aufgüssen in der Badestube in den Gasthof zurückkehrt, verschlingt er sein Saftgulasch mit einem Heißhunger, als wäre er nicht ein Mann von sechzig, sondern ein kraftstrotzender junger Bursche.
Inzwischen ist auch alles für die Übersiedlung nach Salzburg Nötige in die Wege geleitet: Im Haus des Bürgermeisters Anton Heffter am Alten Markt findet man Unterschlupf, bis das endgültige Quartier auf dem Nonnberg bezugsfertig ist. Und hier, wo man von der weinlaubüberdachten Holzbank im Garten bis zur Getreidegasse hinunterblicken kann, in der Mozart zur Welt gekommen ist, setzt Nikolaus von Nissen sein Alterswerk fort, und auch wenn die ihm verbleibenden fünf Lebensjahre nicht dazu ausreichen werden, die große Mozart-Biographie zu vollenden: Sich hier, beflügelt vom Genius loci, in Wesen und Schaffen des Hochverehrten zu versenken, bedeutet dem Schwerkranken höchste, vielleicht sogar lebensverlängernde Erfüllung.
Jetzt auf einmal wachsen ihm auch die Kräfte zu, mit Constanze eine weitere Deutschlandreise zu unternehmen, um die mit Mozart verbundenen Stätten und Personen aufzusuchen; die Kuraufenthalte in Gastein werden zur alljährlichen Übung. Und wenn man wieder daheim ist in dem Häuschen neben dem Nonnenkloster, wo das Bild des kleinen Wolferl mit dem Spielzeugdegen an der Wand hängt, der Stich mit Schwester Nannerl und Vater Leopold am Klavier sowie das Porträt der Söhne Carl und »Wowi«, die einander zärtlich umschlingen, dann ist um die beiden Eheleute eine Atmosphäre späten stillen Glücks, die für Stunden all die Mühsal des Krankseins und der Todesnähe vergessen macht.
Ein wesentliches Element dieses ehelichen Glücks ist es, daß Nikolaus Nissen in bezug auf seinen Vorgänger nicht nur keinerlei Eifersucht empfindet, sondern Mozart in den Bund einbezieht. Auch bei allem, was Constanze in dieser Richtung unternimmt, ist er die treibende Kraft – ob sie, begleitet von Nissens Freund Griesinger, einen letzten (vergeblichen) Versuch unternimmt, auf dem Friedhof von St. Marx Mozarts Grab zu finden, ob er ihr anläßlich von Salieris Tod das wiederauflebende alte Gerücht auszureden versucht, der »schlimme« Mann habe seinen Konkurrenten durch Giftmord beseitigt, oder ob er sie dazu anhält, sich über ihre berechtigten Vorbehalte gegen Mozarts Schwester Nannerl hinwegzusetzen und der Erblindeten in deren Haus in der Kirchgasse ihre Aufwartung zu machen. Wenn es um Mozart geht, schlägt Constanze ihrem Mann keinen Wunsch ab, und sie ist es schließlich auch, die das zunächst ins Stocken geratende und im Winter 1825/26 gänzlich zum Erliegen kommende Projekt der Mozart-Biographie zuendeführt.
Nissen selber, nun als Folge seines körperlichen Verfalls leutscheu werdend, vergeßlich und verwirrt, ist dazu nicht mehr imstande: Der Arzt verordnet dem Fünfundsechzigjährigen kalte Umschläge, läßt ihn zur Ader, empfiehlt statt fester Nahrung nur noch Rhabarbersaft. Am 22. März 1826 schließt er ihm, der zuletzt nur noch wortlos seinen Dank für all die Obsorge ausdrücken kann, die Augen: Constanze von Nissen verwitwete Mozart geborene Weber ist zum zweitenmal Witwe, zum zweitenmal allein.
Sie hat das Ende kommen sehen, ist auf alles vorbereitet gewesen – erst, als die Leichenträger den Toten abholen, bricht Constanze schluchzend zusammen. Im Familiengrab auf dem Salzburger Sebastiansfriedhof wird Nikolaus von Nissen beigesetzt. Als einige Wochen später der Steinmetz den nach ihren Anweisungen angefertigten Grabstein abliefert, entdeckt Constanze den Fehler, der ihr bei der Textierung