Das späte Glück. Dietmar Grieser
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Wagner hat auch bereits sehr klare Vorstellungen von seinem Leben in der Neuen Welt: In Minnesota werde er sich niederlassen, werde ein Haus bauen und eine eigene Schule gründen, und den »Parsifal« werde er den Amerikanern widmen, damit diese im Gegenzug eine Million Dollar lockermachen. Daß es nicht zur Ausführung seiner Pläne kommt (die auf die Vermittlerdienste seines Zahnarztes Newell Jenkins zurückgehen), liegt an den Kindern: Sie hängen an Bayreuth.
Es bleibt also dabei: »Parsifal« wird auf dem Grünen Hügel, in dem im Sommer 1876 eingeweihten Festspielhaus, aus der Taufe gehoben werden; die Vorarbeiten laufen an. Zuvor wird rasch noch – am 22. Mai 1882 – der neunundsechzigste Geburtstag gefeiert: Wagners Assistent Engelbert Humperdinck läßt einen Knabenchor aufmarschieren und erste Ausschnitte aus der »Parsifal«-Musik erklingen.
Wagners gute Laune während der unterdessen angelaufenen Bühnenproben erhält einen Dämpfer durch den plötzlichen Tod der geliebten Haushündin Molly. Die Kinder schaufeln ihr im Garten von Wahnfried ein Grab. Verdruß bereitet ihm auch der elende Zustand der Bayreuther Gastronomie; Wagner richtet diesbezüglich ein Protestschreiben an die Stadtväter: »Man sagt mir, daß im Hotel zur Sonne bei einer Table d’hôte zu sieben Mark nicht ein gesundes Stück Fleisch zu bekommen sei.«
Teils zur Premiere, teils zu einer der folgenden fünfzehn Vorstellungen haben sich illustre Gäste angesagt: Cosimas Vater Franz Liszt, die Kollegen Léo Delibes und Camille Saint-Saëns, die Damen Elisabeth Nietzsche, Lou von Salomé und Malvida von Meysenbug, der junge Gustav Mahler, der Kritiker Eduard Hanslick. Nur König Ludwig II. bleibt diesmal fern. Anton Bruckner weilt schon während der Vorbereitungszeit in Bayreuth, desgleichen der Sohn eines Münchner Hornisten, der gerade das Abitur bestanden hat – sein Name: Richard Strauss.
Als Dirigent der Uraufführung ist der Münchner Kapellmeister Hermann Levi vorgesehen. Daß einem Juden ein »christliches« Werk wie der »Parsifal« anvertraut sein soll und das bei einem Komponisten, der für seine antisemitischen Ausfälle bekannt ist, führt zu mancherlei Irritationen, die auch nicht vor übelster Verleumdung haltmachen: In einem anonymen Brief wird Levi bezichtigt, mit Cosima Wagner eine ehebrecherische Beziehung zu unterhalten. Um die leidige Sache vom Tisch zu haben, weiht Wagner den Maestro in die schmutzige Intrige ein, und es kostet ihn nicht geringe Mühe, den zu Unrecht Angeschwärzten bei der Stange zu halten: Mit den Worten »Sie sind und bleiben mein Parsifal-Dirigent« ruft er den zutiefst Gekränkten, der inzwischen ersucht hat, von seiner Aufgabe entbunden zu werden, zurück, und bei einem gemeinsamen Nachtmahl im Haus Wahnfried, wo auf Wagners ausdrücklichen Wunsch »hebräischer Wein« ausgeschenkt wird, werden auch die letzten Unstimmigkeiten aus dem Weg geräumt.
»Tiefe Ergriffenheit« – so lautet das übereinstimmende Urteil über die Reaktionen des Premierenpublikums: Der 26. Juli 1882, an dem sich zum erstenmal der Vorhang des Bühnenfestspielhauses Bayreuth für Richard Wagners Spätwerk »Parsifal« öffnet, kann also mit goldenen Lettern in die Annalen der europäischen Musikgeschichte eingetragen werden. Kurz nach sechzehn Uhr erklingen die Anfangstakte des Orchestervorspiels, um achtzehn Uhr dreißig beginnt der zweite, um zwanzig Uhr dreißig der dritte und letzte Akt. Der Meister selber hat Regie geführt, Paul von Joukowsky zeichnet für die Bühnendekorationen verantwortlich. Das Orchester setzt sich aus Mitgliedern des Münchner Hoftheaterensembles zusammen, die durch Musiker aus Berlin, Coburg, Darmstadt, Dessau, Hannover, Karlsruhe, Meiningen, Rotterdam, Schwerin, Weimar, Wien und Würzburg Verstärkung erhalten haben. Um den Verführungskünsten der Blumenmädchen, die sich in Klingsors Zaubergarten über den schönen Jüngling Parsifal hermachen sollen, die nötige Drastik zu verleihen, hat man eigens einen Choreographen beigezogen: Richard Fricke.
Der Mann scheint ganze Arbeit geleistet zu haben: Richard Wagner ist von der Szene im zweiten Akt derart hingerissen, daß er den sechs Schönen über das Auditorium hinweg »Bravo!« zuruft. Obwohl das Publikum, ganz auf Weihespiel eingestellt, den ungeschlachten Störenfried niederzischt (ohne zu ahnen, daß es der Meister höchstpersönlich ist, der aus seiner Loge den »fleurs du mal« lauthals Beifall spendet), wird sich das ungehörige Spektakel auch bei den Folgevorstellungen wiederholen.
Wer Wagner bei der Probenarbeit der vergangenen Wochen beobachtet hat, weiß den Grund für dessen überbordenden Enthusiasmus: Der Neunundsechzigjährige, dessen Lebensuhr in knapp sieben Monaten abgelaufen sein wird, hat sich ein letztes Mal verliebt. Die junge Engländerin Carrie Pringle, die der ersten Gruppe der Blumenmädchen angehört, hat es ihm angetan, und da stört es ihn auch nicht im mindesten, daß der Kostümbildner sie – ebenso wie die fünf anderen – in geschmacklose Fetzen gesteckt hat und auch die allzu grelle Dekoration des Zaubergartens beim Publikum auf Ablehnung stößt.
Umso vollendeter ist der Gesang der sechs Schönen: Ihr »Bist du uns hold, so bleib nicht fern!« könnte betörender nicht klingen – hierin sind sich Komponist und Publikum einig. Wagner hat freilich nur für eine von ihnen Augen, und das ist Carrie. Nichts kann ihn daran hindern, ihr »Des Gartens Zier und duftende Geister / im Lenz pflückt uns der Meister!« auf sich persönlich zu beziehen, und wenn es mit den Worten »Wir wachsen hier in Sommer und Sonne / für dich erblühend in Wonne« im Text weitergeht, weidet er sich an der Wunschvorstellung, selber derjenige zu sein, für den das lüsterne Zauberwesen »in Wonne erblüht«.
Niemandem, am wenigsten Frau Cosima, bleibt verborgen, was sich da anbahnt. Kann man es denn als normal abtun, daß Wagner bei den folgenden »Parsifal«-Vorstellungen fast nur noch dem Beginn des zweiten Aktes beiwohnt, um sich die Blumenmädchen-Szene anzusehen? Auch bei dem für den 3. August angesetzten Empfang in Wahnfried ist es einzig und allein das Frl. Pringle, mit dem der Meister scherzt und sich schließlich in eine der hinteren Ecken des Saales zurückzieht.
Was sich in diesen Tagen weiter rund um die zwei abspielt, bleibt ein streng gehütetes Familiengeheimnis: Sowohl Tochter Isolde, die sich, zu dieser Zeit ein Mädchen von siebzehn, in späteren Jahren zu dunklen Andeutungen hinreißen lassen wird, wie auch Gattin Cosima, die in ihrer verklausulierten Hieroglyphen-Schrift die Affäre in ihrem Tagebuch festhält, sind in die Vorgänge eingeweiht.
Auch Gerüchte von einer heimtückischen Attacke auf Wagners »Lieblingsblume« sickern durch: Soll es wirklich nur ein unglücklicher Zufall sein, daß Carrie Pringle bei einer der folgenden Vorstellungen über eine Schnur stolpert und mitten in ihrem Auftritt in einen der Bühnenabgründe stürzt? Leicht verletzt muß sie das Festspielhaus verlassen, eine eilends herbeigerufene Droschke bringt sie in das nahe dem Hofgarten gelegene Haus des Bayreuther Forstmeisters Fröhlich, wo sie einquartiert ist. Hat da womöglich jemand vom Bühnenpersonal »in höherem Auftrag« gehandelt, um der übermütigen Person einen Denkzettel zu verpassen?
Tatsache ist, daß Carrie Pringle in der folgenden Saison an die Mailander »Scala« engagiert wird, und es spricht alles dafür, daß sie ihren Karrieresprung der Fürsprache ihres einflußreichen Gönners zu verdanken hat. Ja, sogar bei seinem nächsten (und letzten) Venedig-Aufenthalt, zu dem Richard Wagner Mitte September aufbricht, will ihm das schöne Kind nicht aus dem Kopf: Maestro Hermann Levi, der inzwischen seine Tätigkeit am Teatro la Fenice aufgenommen hat, erhält Auftrag, Carrie Pringle zum Vorsingen nach Venedig einzuladen.
Das ist selbst für die stille Dulderin Cosima, die sich daran gewöhnt hat, ihrem Mann jedwede Schwäche durchgehen zu lassen, zu viel: Am Morgen des 12. Februar 1883 kommt es darüber zwischen den Eheleuten zum Krach. Am Tag darauf gegen fünfzehn Uhr erleidet der Neunundsechzigjährige eine Herzattacke, von der er sich nicht mehr erholt. Hausarzt Dr. Keppler, peinlich darauf bedacht, sich auf keinerlei »Vermutungen« einzulassen,