Ein Wagnis aus Liebe. Susan Anne Mason
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TORONTO, ONTARIO
MAI 1919
„Da wären wir, Miss. Das macht dann zwei Dollar fünfzig.“
Grace bezahlte und stieg aus dem Wagen. Hier stand sie nun, auf einem Bürgersteig in Toronto, ihre Reisetasche eng an sich gedrückt.
Sie konnte kaum glauben, dass sie nach einer sechstägigen Schifffahrt, einer Zugreise von Halifax nach Montreal und einer weiteren Zugfahrt von Montreal nach Toronto nun tatsächlich am Ziel angekommen war.
Die ersten Eindrücke von Kanada waren so unterschiedlich wie die drei Städte, die sie seit der Ankunft am Hafen von Nova Scotia gesehen hatte. Das kalte graue Halifax hatte immer noch einige Überreste des Winters gezeigt, dazu flächenweise mit Schnee bedeckte Landschaften. Montreal hingegen war ihr sehr fremd und etwas angsteinflößend vorgekommen. Überall standen große Gebäude und man hörte seltsames, blitzartig schnell gesprochenes Französisch. Und nun Toronto. Da sie sich noch nicht einmal eine Stunde in der Stadt befand, musste sich ihr Bild davon erst noch formen. Auf der Fahrt von der Union Station kam sie zunächst an einer skandalösen Mischung aus Gebäuden vorbei, von Bürotürmen bis zu historischen Kirchen, bis sie schließlich zu einer Wohnsiedlung mit dreispurigen Straßen gelangte.
Kaum zu glauben, dass noch keine drei Wochen vergangen waren, seit Grace sich zu Hause in Sussex um ihre Mutter gekümmert hatte und alles so normal erschien, wie es nach den Kriegsverwüstungen möglich war. Nur schlecht verarbeiteten sie und ihre Mutter die Nachricht vom Tod ihres Bruders Owen, der kurz vor Friedensschluss in einer der letzten Schlachten gefallen war. Ihre Mutter verkraftete die Nachricht gar nicht gut und fiel über diesen Verlust in eine tiefe Depression. Nichts, was Grace tat oder sagte, schien ihre Stimmung heben zu können.
Ein weiterer Grund dafür, weshalb ihr diese Reise so viel bedeutete.
Nun aber wandte Grace ihre Aufmerksamkeit dem roten Backsteinhaus vor sich zu. Es war nicht ansatzweise so spartanisch, wie sie es sich vorgestellt hatte. In diesem hübschen Haus fühlten sich Rose und das Baby sicher sehr wohl. An den Bäumen im Vorgarten grünten die ersten Blätter und ein einladender Blumentopf mit Stiefmütterchen stand auf der weißen Veranda. Darüber gab es einen Balkon, der über die gesamte Hausfront verlief und in der Mitte einen kleinen, überdachten Erker hatte. Wo Rose wohl wohnte? Womöglich im dritten Stock, wo ein ansprechendes Mansardenfenster aus dem Dach blickte.
Grace atmete tief ein und drückte ihre Hand auf den Magen, der immer noch rumorte, als befände sie sich auf See. Würde Rose wohl überrascht sein, sie vor ihrer Tür stehen zu sehen? Selbst wenn das Telegramm sie erreicht hatte, hätte sie nicht einschätzen können, wie lange Grace von Halifax nach Toronto brauchte.
Grace stieg die wenigen Stufen hoch und klopfte an der Eingangstür. Sie hoffte, dass Rose recht hatte und Grace ebenfalls bei Mrs Gardiner unterkommen könnte, bis die beiden sich etwas überlegt hatten. Rose schien ziemlich gut von der Frau zu denken, die sie und das Baby bei sich aufgenommen hatte, als sie nicht länger in der Pension hatten wohnen können. Aber eigentlich wollte Grace all diese Sorgen beiseiteschieben, zumindest für den Moment, und sich stattdessen auf das langersehnte Wiedersehen mit ihrer Schwester freuen. Vorfreude sprudelte durch ihren Körper. Sie konnte es kaum erwarten, endlich wieder bei Rose zu sein, zum ersten Mal ihren Neffen in den Armen zu wiegen und seine süßen Bäckchen zu küssen. Und natürlich war sie gespannt auf all die Geschichten und Neuigkeiten ihrer Schwester.
Einige Sekunden vergingen, ohne dass sich jemand rührte. War denn keiner zu Hause? Erneut klopfte Grace an der Tür, doch niemand öffnete ihr. Enttäuschung legte sich schwer auf ihre Schultern. Sie setzte die Reisetasche ab und schaute sich etwas um. Da entdeckte sie ein „Zum Verkauf“-Schild im Garten, das von einem dicken Baumstamm verdeckt wurde. Merkwürdig – Rose hatte gar nicht erwähnt, dass Mrs Gardiner plante, das Haus zu verkaufen. Vielleicht war das aber der Grund, weshalb Rose gern eine eigene Unterkunft suchen wollte, sobald Grace einen Job gefunden hatte.
Bei diesem Gedanken musste Grace schwer schlucken und spürte den metallischen Geschmack von Schuld. Sie hatte Rose verschwiegen, dass sie gar nicht vorhatte, eine Arbeit zu suchen oder selbst etwas zu mieten. Vielmehr wollte sie alles dafür tun, mit dem nächsten Schiff gemeinsam mit Rose und dem Kleinen zurück nach Sussex zu fahren.
Nach einem weiteren unbeantworteten Klopfen nahm Grace die Reisetasche wieder an sich und ging die Treppe herunter zur Straße. Erschöpft dachte sie über einen neuen Plan nach, doch sie war ratlos. Sie hatte nicht einmal an die Möglichkeit gedacht, dass Rose bei ihrer Ankunft nicht hier sein könnte.
In diesem Moment kam aus dem Haus nebenan eine Frau auf die Veranda. Vielleicht wusste sie ja etwas über Rose oder ihre Vermieterin. Also überquerte Grace den Rasen und ging auf sie zu.
Die Frau im blumigen Kleid war gerade dabei, einen Teppich auszuklopfen. Als sie Grace sah, schaute sie auf. „Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?“
Grace setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. „Das hoffe ich. Ich bin auf der Suche nach Mrs Gardiner. Aber sie scheint nicht zu Hause zu sein.“
Da unterbrach die Frau ihre Arbeit und sagte: „Vermutlich haben Sie es noch nicht gehört. Mrs Gardiner ist nach Vermont gezogen, um bei ihrer Tochter zu leben. Bis das Haus verkauft ist, werfe ich ein Auge darauf.“
Nach Vermont gezogen? Aber was war mit Rose und dem Baby? Sicherlich hatte sie sie nicht einfach auf die Straße gesetzt. „Wissen Sie denn, ob Rose Ab… – ich meine Easton, Rose Easton – noch hier wohnt? Sie und ihr Baby leben seit einigen Monaten bei Mrs Gardiner zur Untermiete.“
Die Frau überlegte einen Moment. „Ich kann mich an eine Frau mit Baby erinnern, ja. Aber leider weiß ich nicht, was aus ihnen geworden ist, nachdem Cora krank wurde. Tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Miss. Aber warum versuchen Sie es nicht mal bei Pastor Burke, dem Pfarrer der Holy Trinity Church? Er hat die beiden damals sehr oft besucht. Vielleicht weiß er ja, wo sie jetzt sind.“
„Vielen Dank. Das werde ich tun“, erwiderte Grace zuversichtlich und biss sich sogleich auf die Unterlippe, als sie bemerkte, dass sie gar nicht wusste, wie sie den Pastor finden sollte. „Könnten Sie mir vielleicht noch sagen, wie ich zu der Kirche komme?“
„Die ist etwa zehn Häuserblocks von hier entfernt“, erklärte die Frau und zeigte zur nächsten Kreuzung. „Gehen Sie einfach immer die Sherbourne Street entlang. Dann können Sie sie nicht verpassen.“
Grace hielt einen kleinen Seufzer zurück. Zehn Blocks klang nicht gerade nah, aber vielleicht war ein wenig Bewegung nach den langen Zugfahrten genau das Richtige. „Danke noch mal“, sagte sie und ging los.
Mit der Zeit sahen die Straßen etwas stadttypischer aus und füllten sich mit Menschen. Alle gingen sehr zügig und drängelten sich an Grace vorbei, die sich bemühte, Schritt zu halten. Eine kleine Welle von Heimweh überkam sie und sie sehnte sich nach den geordneten Straßen ihres Dorfes. Dort war das einzige mögliche Hindernis für einen Fußgänger der Schubkarren eines Bauern, der von einem sturen Esel nur langsam vorangezogen wurde.
Beim Kampf durch die Straßen der unbekannten Stadt plagte Grace die Sorge um ihre Schwester. Was mochte ihr und dem kleinen Christian wohl geschehen sein? Sicherlich hatte Pastor Burke ein neues Zuhause für sie gefunden. Vielleicht bei einer anderen liebenswürdigen Frau aus seiner Gemeinde.
Schließlich zeichnete sich vor ihr ein Kirchturm ab, und als Grace nah genug war, um das Schild lesen zu können, war sie erleichtert. Tatsächlich war sie an der Holy Trinity Church angekommen. Schnell scherte Grace