Der erste Walzer. Dietmar Grieser
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der erste Walzer - Dietmar Grieser страница 10
Der Segen Gottes ist in diesem Fall zum Greifen nah: Initiator Johann Baptist Weber wählt als Ort für die von ihm ins Leben gerufene »Erste Österreichische Spar-Casse« nicht irgendein Wiener Amtslokal, das dazu eigens angemietet werden müßte, sondern eines der Zimmer im Obergeschoß des Pfarrhofes. Für die darin untergebrachten Dienstleute sucht er an anderer Stelle ein passendes Quartier; der auf diese Weise freigewordene Raum wird mit Stehpult und Sitzbank zur »Schalterhalle« umfunktioniert. Für die Kontoführung werden großformatige Geschäftsbücher, für die Aufbewahrung der Gelder eine eiserne Handkasse und für die »Bescheinigung« der Einzahlungen und Abhebungen Stempel und Siegel angeschafft, die mit dem Bild des Namenspatrons Leopold und dessen Insignien geschmückt sind: Kirche, Fahne und Brotkorb.
Da Pfarrer Webers Gründung dem erklärten Willen des Hofes entspricht, findet die feierliche Eröffnung der Spar-Casse ausdrücklich am 4. Oktober 1819 statt: Es ist der Namenstag des regierenden Kaisers. Dem Festgottesdienst wohnen Fürsterzbischof Graf Hohenwarth, Regierungspräsident Baron Reichmann, Nationalbankdirektor Freiherr von Eskeles und Hofagent Ritter von Schönfeldt bei.
Drei Tage darauf lädt Seine Majestät den gesamten Vorstand zur Audienz in die Hofburg ein; die dem Kaiser bei dieser Gelegenheit ausgehändigten hundert Sparbücher à zehn Gulden wird Franz I. in den folgenden Tagen »unter würdigen Kindern der unteren Klassen« verteilen. Den Betrag haben eine Reihe wohlhabender Bürger aufgebracht, die auch für das Stammkapital verantwortlich zeichnen.
Das Sparbuch mit der Nr. 1 erhält die schon erwähnte Marie Schwarz. Ihr »Vermögen« wird im Lauf der Jahre auf 30 Gulden und 49 Kreuzer anwachsen, und als sie das 45. Lebensjahr erreicht, wird ihr der gesamte Betrag ausbezahlt. Ihre Spartätigkeit setzt sie übrigens auch in der Folgezeit fort – letzter Kontostand: 5 Gulden und 33 Kreuzer.
Im Unterschied zu den Chroniken der anderen Wiener Pfarreien verzeichnet die von St. Leopold nicht nur Geburten und Taufen, nicht nur Eheschließungen und Sterbefälle, sondern auch die »Bilanzen« der hauseigenen Spar-Casse, der regelmäßig »herrliches Gedeihen« attestiert wird: Bereits drei Monate nach der Gründung zählt man an die 1400 Klienten, der Zinssatz ist vier Prozent, 25,– Kreuzer beträgt das Einlageminimum. Um den Charakter der Armenkasse zu bewahren und reiche Spekulanten fernzuhalten, einigt man sich auch auf eine Obergrenze; sie ist mit hundert Gulden festgesetzt.
Die Statuten besagen klipp und klar:
»Dem Fabrikarbeiter, dem Taglöhner, dem Handwerker, dem Dienstboten, dem Landmann oder sonst einer gewerbefleißigen und sparsamen minderjährigen oder großjährigen Person sollen die Mittel an die Hand gegeben werden, von ihrem mühsamen Erwerbe von Zeit zu Zeit ein kleines Kapital zurückzulegen, um solches in späteren Zeiten zur Begründung einer besseren Versorgung, zur Aussteuer, zur Aushilfe in Krankheit, im Alter oder zur Erreichung eines löblichen Zweckes zu verwenden.«
Der Betrieb im Obergeschoß des Pfarrhofes von St. Leopold floriert so prächtig, daß man mit den ursprünglichen Dienstzeiten (Dienstag und Freitag von 9 bis 12 und von 3 bis 6) bald nicht mehr sein Auslangen findet, und auch die Räumlichkeiten im Leopoldstädter Behelfsquartier sind dem Ansturm der Klienten kaum noch gewachsen. Schon im zweiten Betriebsjahr muß daher in die Innere Stadt übersiedelt werden: in zwei nebeneinanderliegende Zimmer des Deutschordenshauses in der Singerstraße.
Auch außerhalb Wiens spricht sich die neue Errungenschaft herum; die Folge sind Sparkassengründungen in Innsbruck und Graz, in Laibach und Prag, sogar in Siebenbürgen und Norditalien. Was Wien betrifft, so geht die Administration der segensreichen »Anstalt« mit der Zeit in weltliche Hände über: Pfarrer Weber zieht sich auf das Amt des Ehrenkurators zurück. Seiner Bestimmung als Wohltäter bleibt er freilich auch weiterhin treu: In Mannswörth gründet er eine Industrieschule für bedürftige Mädchen, in Baden ein Versorgungsheim für Kleinkinder. Mit der Stelle des Schloßkaplans von Schönbrunn beschließt er seinen beruflichen Lebensweg: 1848 stirbt Johann Baptist Weber im Alter von 72 Jahren.
Wie schön, daß auch in der Folge weder sein Name noch sein segensreiches Wirken in Vergessenheit geraten: An dem Ort, wo der brave Gottesmann vor beinah zwei Jahrhunderten seinen Landsleuten das Geldsparen beigebracht hat, wird seiner bis heute liebevoll gedacht – mit einer im Pfarrgärtlein von St. Leopold aufgestellten Statue und mit einer an der Außenmauer der Kirche applizierten Schrifttafel, die seine diversen Verdienste auflistet. Und die Stadt Wien ehrt Johann Baptist Weber mit einer nach ihm benannten Gasse im XX. Bezirk.
Zehn Kreuzer pro Woche
Teesdorf ist eine Marktgemeinde von 1900 Einwohnern, liegt dreißig Kilometer südlich von Wien und acht Kilometer östlich von Bad Vöslau. Für einen mäßig attraktiven Ort dieser Größe bedeuten die drei Museen, die man den Besuchern anbietet, ein bemerkenswertes Ausstellungspotential: Der Franz-Jonas-Gedenkraum erinnert daran, daß es Teesdorf ist, dem der frischgewählte Bundespräsident 1965 einen seiner ersten Besuche abgestattet hat; im Heimatmuseum wird die industriegeschichtliche Vergangenheit des Ortes wachgehalten; und im Hermann-Broch-Museum können sich Literaturinteressierte ein Bild davon machen, wie schwierig es für einen Dichter ist, zugleich den Beruf eines Fabrikdirektors auszuüben.
Die Fabrik, um die es sich dabei handelt, ist die einst berühmte Teesdorfer Baumwollspinnerei, deren Turm, nach wie vor das Wahrzeichen des Ortes, demnächst unter Denkmalschutz gestellt werden soll. Auch das alte Herrenhaus steht noch, ist allerdings in einen Komplex von Eigentumswohnungen umgewandelt worden. Bloß von der armseligen Keusche, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Kramladen besonderer Art beherbergte, hat sich nicht das kleinste Relikt erhalten: Es war Österreichs erster Konsumverein. Nur an Hand der alten Fotos von dem langgestreckten einstöckigen Bau mit dem steilen Giebeldach, dem geduckten Entree und den bis fast aufs Straßenniveau hinabreichenden Fenstern kann sich der Betrachter, sofern er über genügend Phantasie verfügt, ein Bild davon machen, wie seinerzeit die notleidenden Fabrikarbeiter nach Feierabend zu »ihrem« Laden pilgerten, um hier ihre vergünstigten Lebensmitteleinkäufe zu tätigen.
Es ist die Zeit des industriellen Frühkapitalismus, da die meisten Unternehmer die von ihnen beschäftigten Arbeiter noch wie Leibeigene behandeln. Kinderarbeit ab zwölf Jahren ist – auch in Teesdorf – eine ebensolche Selbstverständlichkeit wie die willkürliche Lohnkürzung bei Eintreten momentaner Absatzschwierigkeiten; umgekehrt ist Streik noch ein Fremdwort. Will ein Arbeiter auswärtigen Besuch empfangen, muß er dazu beim Herrn Direktor die entsprechende Genehmigung einholen, nur Zeitunglesen kann man ihm nicht untersagen. Und so dringen auch ins kleine Teesdorf immer häufiger Nachrichten von ungewöhnlichen Selbsthilfeaktivitäten, die – besonders in der Region um die englische Industriemetropole Manchester – darauf abzielen, die menschenunwürdigen Lebensbedingungen der von den »Industriebaronen« ausgebeuteten Arbeitskräfte zu verbessern. In Rochdale, einer dieser Hochburgen des sogenannten »Manchestertums«, soll sich 1844, so hört man, sogar eine Art proletarischer Genossenschaftsbewegung formiert haben. Ihnen, den »Redlichen Pionieren von Rochdale«, möchte man es in Teesdorf, dessen »k.k. privilegierte Baumwollspinnerei« etwas über fünfhundert Lohnarbeiter beschäftigt, in Hinkunft gleichtun.
Im August 1856 ist es so weit: Eine Handvoll beherzter Männer setzt sich zu Beratungen zusammen, beschließt die Gründung eines »wechselseitigen Unterstützungsvereins der Fabriksarbeiter« und reicht bei der k.k. Niederösterreichischen Statthalterei den Entwurf der mit aller Sorgfalt ausgearbeiteten (und mit dem obligaten Sechs-Kronen-Stempel »vergebührten«) Satzung ein. Vereinszweck ist »die Beschaffung der für die Mitglieder erforderlichen Nahrungsmittel im großen« oder genauer: »die Erzielung möglichst billiger Anschaffungspreise