Der erste Walzer. Dietmar Grieser
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Man fängt klein an: Jeweils am Sonntag ziehen zwei Mann mit dem Handwagen ins nahe Wiener Neustadt, um die von den Mitgliedern bestellten Waren zu besorgen. Die Idee findet Anklang, und so kann binnen kurzem auf Pferdefuhrwerk umgestellt und einige Jahre später auch vom System der Vorbestellung abgegangen und in einem leerstehenden Nebengebäude der Spinnereifabrik ein Warendepot angelegt werden. 1873 reicht das inzwischen angesparte Vereinskapital sogar zum Erwerb eines eigenen Hauses: Es ist jene schon erwähnte Keusche, die somit als Österreichs erster Konsumladen in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingeht.
Das kleine Teesdorf jedenfalls hat die Nase vorn: Erst 1862 kommt es auch in Wien – dort übrigens auf Initiative der Eisenbahner – zur Gründung eines Arbeiterkonsumvereins; weitere entstehen in Wien-Fünfhaus, in Wiener Neustadt und mit den Jahren auch in anderen Landesteilen. Das Prinzip ist immer das gleiche: preisgünstigeres Warenangebot dank Großeinkaufs sowie ehrenamtlicher Geschäftsbetrieb mit freiwilligen Hilfskräften. Vorweggenommen ist außerdem die noch heute (nach bald hundertfünfzig Jahren!) umstrittene Abendöffnung: Die Mitglieder sollen die Möglichkeit haben, ihre Einkäufe nach getaner Arbeit tätigen zu können.
Das Sortiment, ursprünglich auf die gängigen Grundnahrungsmittel beschränkt, wird mit der Zeit um anspruchsvollere Waren erweitert, auch Haushaltsartikel und Produkte der Kosmetikindustrie treten hinzu, nur »Branntwein und andere in die Kategorie der geistigen Getränke gehörige Flüssigkeiten sind, als nicht zu den Lebensbedürfnissen gehörig, in die Anschaffungslisten nicht aufzunehmen«. Der erste Konsumverein, der von dieser Einschränkung abrückt, ist jener der Kärntner Bergwerksgemeinde Heiligengeist; in einem Ergänzungsantrag an die zuständige Behörde wird »ehrfurchtsvoll um gnädige Bewilligung« angesucht, auch Spirituosen anbieten zu dürfen – und zwar mit folgender Begründung: »Geistige Getränke sind den Bergarbeitern sehr notwendig, indem dieselben 12 bis 18 Stunden des Tages bei harter Arbeit in den Gruben nur mit einem Stück schwarzen Brotes vorliebnehmen müssen und ohne den Genuß geistiger Getränke ihre Arbeitskraft für längere Lebensdauer nicht erhalten können.«
Viel wäre noch zu sagen über die weitere Entwicklung der österreichischen Konsumbewegung, über ihre Blüte in der Zeit nach dem Ersten und ihr Wiedererstehen nach dem Zweiten Weltkrieg und auch über ihren spektakulären Zusammenbruch im Konkursjahr 1995. Doch das ist nicht mehr unser Thema, und so wollen wir statt dessen für einen Augenblick nochmals an den Ursprungsort Teesdorf zurückkehren, wo im Sommer 1856 alles angefangen hat …
Dreißig Jahre nach jenem Urereignis, am 1. November 1886, kommt in Wien der Schriftsteller Hermann Broch zur Welt, dessen Vater Josef Broch – weitere zwanzig Jahre später, nämlich Ende 1906 – die »k.k. privilegierte Spinnfabrik Teesdorf« vor dem drohenden Konkurs rettet, käuflich erwirbt und zu einem prosperierenden Unternehmen ausbaut. Damit dies auch in Hinkunft so bleibt, zwingt er seinen Sohn – entgegen dessen schriftstellerischen Neigungen – sich zum Textilingenieur ausbilden zu lassen und 1909 in die Leitung der Firma einzutreten.
Hermann Broch, im Gegensatz zu seinem als »Ungetüm aus der Endphase des kapitalistischen Heroen-Zeitalters« beschriebenen Vater jeder Zoll ein Humanist, wird, bevor er 1927 die Fabrik abstößt und sich nunmehr zur Gänze der Literatur zuwendet (und mit der Romantrilogie »Die Schlafwandler« debütiert), manches für die Erhaltung des sozialen Friedens seiner Belegschaft tun. Hermann Broch sorgt unter anderem dafür, daß bedürftige Arbeiterkinder in einer eigens installierten Werksküche gratis verköstigt werden, er spendiert dem Arbeiter-Sportverein Turnhalle und Freibad, er setzt sich dafür ein, daß Teesdorf an das öffentliche Stromnetz angeschlossen wird, und woran ihm als Nebenberufs-Schriftsteller besonders gelegen ist: Er stiftet seiner Gemeinde eine Leihbibliothek, deren Grundstock 4000 Bücher zählt. Der »Konsumgedanke« findet also auch in ihm einen tatkräftigen Förderer, der des Dankes seiner Arbeiter gewiß sein kann.
Cornflakes, Corned Beef, Erdnußbutter
Wien, im Oktober 1946, vor dem Eingang zu einer Rotkreuz-Station, in der an besonders Bedürftige Frischmilch ausgegeben wird. Unter den in der Schlange Wartenden ist auch die Mutter der drei Monate alten Christiane. Der Kinderwagen, in dem das Baby schlummert, steht ein paar Schritte seitab. Als die junge Frau zu ihrem Herzbinkerl zurückkehren will, sind Kind und Wagen verschwunden. Alles noch so hektische Suchen bleibt vergebens: Christiane K. ist entführt worden. Die Polizei nimmt die Fahndung nach dem unbekannten Täter auf – ohne Erfolg. Auch der Geldbetrag, der für zweckdienliche Hinweise ausgesetzt wird, bringt der verzweifelten Mutter ihr Kind nicht zurück.
Da schaltet sich CARE ein, die von den Amerikanern ins Leben gerufene und seit kurzem auch im hungerleidenden Wien tätige Hilfsorganisation: In einem über Rundfunk und Presse verbreiteten Aufruf verspricht sie demjenigen, dem es gelingen sollte, das entführte Baby ausfindig zu machen und damit dessen Befreiung zu ermöglichen, eine ungewöhnliche Belohnung: fünf jener mit ausgesuchten Lebensmitteln aus Amerika gefüllten CARE-Pakete, von denen in diesen kalorienarmen Tagen jedermann in Wien träumt. Die Aktion führt tatsächlich zum Erfolg: Das nahrhafte »Lösegeld« wird »kassiert«, und Frau K. erhält ihre kleine Christiane zurück. Was sich für heutige Ohren wie ein gut erfundenes Märchen, wie ein tränenreiches Rührstück von anno dazumal anhört, hat sich wirklich genau so zugetragen: Es ist eines der Ruhmeskapitel aus der an Höhepunkten reichen Chronik von CARE.
Sorge, Obhut, Pflege – das bedeutet das englische Wort »care« auf deutsch. Um das am 27. November 1945 gestartete Hilfsprogramm für Europa zu benennen, könnte es also nicht besser gewählt sein, und tatsächlich verbindet jeder, der das Wunderwort zum ersten Mal hört, mit CARE die Vorstellung von Sorge, Anteilnahme, Hilfe. Streng genommen ist es jedoch die Abkürzung des bürokratisch-umständlichen Namens, den sich die segensreiche Charity-Organisation bei ihrer Gründung zugelegt hat: Cooperative for American Remittances to Europe.
Die Idee, die hinter der Aktion steht, ist ebenso vortrefflich wie simpel: Die amerikanische Bevölkerung, ob Einzelpersonen oder Familien, ist dazu aufgerufen, ihren im Nachkriegs-Europa hungerleidenden Verwandten oder Bekannten mit Paketsendungen unter die Arme zu greifen. 15 Dollar ist der Standardpreis, 14 Kilo das Standardgewicht. Es sind Lebensmittelpakete, die eigentlich für US-Soldaten in Asien bestimmt sind und die je nach Bedarf zehn Tagesrationen für einen GI enthalten oder eine Tagesration für zehn. Vieles von dem, was nun statt dessen in die Hände jener Bedürftigen im kriegsgeschädigten Europa gelangt, die über spendierfreudigen Anhang in den USA verfügen, ist für die Empfänger vollkommen neu: Wie sonst hätten sie jemals Cornflakes oder Corned Beef kennenlernen sollen?
Schon das Auspacken all der Herrlichkeiten gestaltet sich zum Familienfest: Da gibt es Butter-, Marmelade- und Puddingkonserven, Trockenmilch und Fruchtsaftpulver und als Krönung Schokolade. Cadbury ist die gängige Schokoladenmarke, ihr Name wird zum Mythos.
Mit der Zeit wird das Angebot großzügig erweitert: Es folgen Pakete, die auch Zigaretten, Kaugummi und Seife enthalten, Textil-, Medikamenten- und Werkzeugspenden, eigene Säuglings- und Kleinkinderpakete, und für die aus den NS-Konzentrationslagern befreiten oder aus dem Exil heimgekehrten Juden stehen sogar koschere Nahrungsmittel bereit. Was im heizstoff armen Österreich während der kalten Wintermonate besonders dringend gebraucht wird, sind Wolldecken. Eine der glücklichen Empfängerinnen rühmt im Dankbrief an ihre Wohltäter das prachtvolle Grün der soeben eingetroffenen Decken: »Wir könnten uns daraus die schönsten Hubertusmäntel schneidern lassen, doch um in unserem ungeheizten Schlafzimmer nicht zu erfrieren, brauchen wir sie dringend fürs Bett.«
Betuchte