Der erste Walzer. Dietmar Grieser
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»Aufs zärtlichste umarmet, geküsset und gesegnet…«
Alle Häuser, Fenster und Dächer, alle Plätze und Straßen waren mit Menschen angepfropft, deren Anzahl wahrscheinlich bei fünfzigtausend Köpfe ausmachte.« So lesen wir in der »Ausführlichen Geschichte der Reise des Pabstes Pius VI. von Rom nach Wien«: Nur wenige Monate nach dem erhabenen Ereignis vom Frühjahr 1782 legt Autor Anton Bauer sein 140 Seiten langes Protokoll in Buchform vor. Andere Quellen berichten, bei einer der zahlreichen Segnungen, die der hohe Gast vom Balkon seines Logis, des Amalientraktes der Wiener Hofburg, vorgenommen habe, sei es sogar zu folgenschweren Zusammenstößen gekommen: »Eine Frau wurde von der Menge erdrückt.« Zwischenfälle dieser Art bleiben Wien erspart, als zweihundert Jahre später zum zweiten Mal ein Papst nach Österreich auf Besuch kommt: Johannes Paul II. anno 1983. Und auch bei dessen Wiederkehr 1988 sind zwar mancherlei Unzukömmlichkeiten, aber jedenfalls keine Todesopfer zu beklagen. In der Geschichte der Papstreisen nach Österreich ist und bleibt die des Jahres 1782 nicht nur der Reihenfolge nach, sondern auch hinsichtlich ihres spektakulären Verlaufes die unumstrittene Nummer 1.
Seit 16 Monaten ist Kaiserin Maria Theresia tot; Sohn Josef II., ihr Viertgeborener, bestimmt die Politik am Wiener Hof. Der Einundvierzigjährige hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, die Übermacht der katholischen Kirche einzudämmen: Er reduziert die Zahl der kirchlichen Feiertage, untersagt Prozessionen und Wallfahrten, greift sogar – mit rigiden Vorschriften bezüglich der Zahl der Altarkerzen oder der Dauer des Glockenläutens – in die gottesdienstlichen Abläufe ein. Auch mit seinen harschen Maßnahmen zur Einschränkung des Ordenslebens, zur Aufhebung zahlreicher Bruderschaften und zur Verstaatlichung von Klostereigentum stößt Seine Majestät Klerus wie Laien vor den Kopf. Sein Verbot der Mitternachtsmette erregt vor allem in Tirol Unmut.
Am stärksten ist der Widerstand gegen die Kirchenpolitik des Reformkaisers klarerweise in Rom: Der Vatikan tobt. Papst Giovanni Angelo Braschi, der unter dem Namen Pius VI. seit sieben Jahren den Heiligen Stuhl inne hat, weiß, daß er keine Zeit verlieren darf, um den aufmüpfigen Habsburger in seine Schranken zu weisen. Nachdem der Briefwechsel zwischen Rom und Wien zu keinerlei Verbesserung der gestörten Beziehungen geführt hat, faßt der Heilige Vater zu Beginn des Jahres 1782 den Entschluß, nach Wien zu reisen und den aufbegehrenden Monarchen in persönlich und an Ort und Stelle geführten Verhandlungen umzustimmen.
Staatskanzler Fürst Kaunitz, der als die treibende Kraft hinter den kirchenfeindlichen Eingriffen des Wiener Hofes anzusehen ist, rät dem Kaiser zwar, dem avisierten Besuch sein Einverständnis zu versagen, setzt sich damit jedoch nicht durch: »Mit Dank und Vergnügen«, so läßt Seine Majestät dem Stellvertreter Gottes mitteilen, nehme man dessen Wunsch an, »sich selbst zu uns zu verfügen« und »wie ein Vater mit seinem Sohne freundschaftlich und liebreich« zu sprechen. Gleichzeitig versäumt Josef II. allerdings auch nicht, klarzustellen, daß er unter keinen Umständen gewillt sei, sich durch die persönliche Präsenz des Heiligen Vaters von seinen Reformschritten abbringen zu lassen. Es wird also keine leichte Reise sein, auf die sich Pius VI. in den Tagen vor Ostern 1782 einläßt …
Es fängt schon damit an, daß sich der ursprüngliche Plan, den via Görz, Laibach, Cilli, Marburg und Graz anreisenden Papst von Bruck an der Mur abzuholen und von dort via Mariazell nach Wien zu geleiten, im letzten Augenblick zerschlägt: Unter Hinweis auf eine akute Augenentzündung, die ihn zeitweise dazu zwinge, sein Gesicht zu bandagieren, läßt Kaiser Josef II. seinen Gast wissen, er werde ihm nur bis zum näher gelegenen Neunkirchen entgegenreisen können – und auch dies ohne großes Gefolge, nur begleitet von seinem Bruder, Erzherzog Maximilian Franz, und Oberstallmeister Graf Dietrichstein. »Um allem Zeremoniell und wie immer gearteten Komplimente auszuweichen«, solle die Begegnung außerdem auf offener Straße stattfinden.
Die Entourage des Papstes umfaßt neben der ihm assistierenden hohen Geistlichkeit zwei Adjutanten, zwei Ärzte, einen Koch, einen Wagenmeister, einen Packknecht, zwei Stallknechte, zwei dem Zug voranreitende Kuriere sowie weitere Dienerschaft. Die letzte Nacht hat Pius VI. als Gast des Grafen Walsegg in dessen Schloß Stuppach nahe Gloggnitz zugebracht, für den Kaiser wurde ein Schlafgemach in der Wiener Neustädter Burg hergerichtet. Als dort am Morgen des 22. März die Meldung eintrifft, die päpstliche Reisegesellschaft sei soeben zur Weiterfahrt aufgebrochen, macht sich auch Josef II. auf den Weg und fährt seinem Gast entgegen.
Sobald die Wagenkolonne des Pontifex in Sichtweite gerät, steigen der Kaiser und sein Bruder aus der zweisitzigen Galakutsche und nähern sich dem Wagen des Gastes, der seinerseits, gefolgt von den ihn begleitenden Bischöfen Marcucci und Contessini, die Fahrstraße betritt und seinen Gastgeber huldvoll in die Arme schließt. Für die Weiterfahrt nach Wien wechselt Pius VI. von seiner Kutsche in die des Kaisers; unter feierlichem Glockengeläut trifft man in Wiener Neustadt ein, wo während des Pferdewechsels Dom und Militärakademie besichtigt werden.
Schon während der dreistündigen Reststrecke Richtung Wien trifft man auf eine stetig anwachsende Schar von Schaulustigen, die aus den Ortschaften ringsum herbeieilen, um dem Ankömmling zuzuwinken; ab Wiener Neudorf drängen sie sich in dichtem Spalier. Beim Einzug in die Reichshaupt- und Residenzstadt übernehmen vier ungarische und vier galizische Nobelgarden das Geleit. Als Logis für den hohen Gast ist die Hofburg vorgesehen: Es sind jene prachtvoll ausgestatteten Gemächer, in denen vormals Maria Theresia residiert hat.
Bereits hier, bei der Vorstellung der Minister und des Staatskanzlers, erhält Pius VI. einen ersten Vorgeschmack von der frostigen Stimmung, die ihm an den folgenden Tagen seitens des offiziellen Österreichs entgegenschlagen wird: Keiner der hohen Herren zeigt sich zu einem Kniefall bereit. Zum Empfang in der Josefskapelle stimmt die Hofmusik zwar das Te Deum an, doch die Kanonensalven, die in früheren Zeiten bei einem solchen Anlaß abgefeuert worden wären, bleiben auf höhere Weisung aus.
Ein dichtes Programm wartet auf den Gast aus Rom. Obwohl Pius VI. sich einen vollen Monat – vom 22. März bis zum 22. April – in Wien aufhält, kommt der Vierundsechzigjährige Tag für Tag auf ein Vierzehnstunden-Pensum: Bei Tagesanbruch steht er auf, dann zelebriert er die heilige Messe, empfängt in den Sakristeien der diversen Kirchen die Gläubigen zum Fuß- und Handkuß, unternimmt zahlreiche Höflichkeitsbesuche, trifft sich zu den gewünschten Geheimverhandlungen mit dem Kaiser und stattet zwischendurch den Wiener Sehenswürdigkeiten – vom Arsenal bis zur Hofbibliothek, von der Schatzkammer bis zu den Kunstsammlungen und Naturalienkabinetten, von den örtlichen Waisenhäusern bis zur Herzgruft der Habsburger, vom Augarten bis zum Prater – Visiten ab. Erst gegen 16 Uhr nimmt er das Mittagsmahl ein, es folgen Privataudienzen und öffentliche Empfänge; mit Schreiben, Lesen und Beten beschließt er den Tag. Erst kurz vor Mitternacht gehen in den päpstlichen Gemächern die Lichter aus.
So mühsam und so wenig ergiebig die Verhandlungen mit dem Kaiser verlaufen, von deren Inhalt im übrigen kaum etwas an die Öffentlichkeit dringt, so herzlich ist die Anteilnahme der Bevölkerung, die bei jeder seiner vielen Ausfahrten dem Heiligen Vater huldigt, die Straßen und Plätze säumt, um seinen Segen zu empfangen, mit Bildern, Kreuzen und Rosenkränzen anrückt oder sich bei den zahlreichen ambulanten Devotionalienhändlern mit Medaillen, Kupferstichen und Wachsreliefs eindeckt, die allesamt (und in unterschiedlicher Qualität) mit dem Antlitz des Heiligen Vaters versehen sind. Nicht nur Adel und Militär, nicht nur Hofstaat und Beamtenschaft sind zu den nachmittäglichen Audienzen zugelassen, sondern auch das gemeine Volk: Hausherr und Hausknecht friedlich vereint, der Kammerdiener neben dem Mundkoch, der Großkaufmann neben dem Perückenmachergesell.
Einer der Höhepunkte ist die für den Nachmittag des Ostersonntags angesetzte Absolutionsfeier auf dem Platz Am Hof, bei der Pius VI. im Kreise der in Wien versammelten Kardinäle und Bischöfe vom Balkon der ehemaligen Jesuitenkirche den über 50 000 herbeigeströmten Gläubigen den »vollkommenen Ablaß«, also die »Nachlassung aller Sünden« erteilt. Vierhundert Chorsänger teilen sich mit dem Pontifex die Intonierung der feierlichen Formel, die »allen denjenigen, welche an diesem Tage oder in dieser