Die ganz Großen. Georg Markus

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Die ganz Großen - Georg Markus

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und mein Beruf als Journalist brachten es mit sich, dass ich die Gelegenheit hatte, einige der letzten Jahrhundertkünstler – wie Paula Wessely, Attila und Paul Hörbiger, Josef Meinrad, Rosa Albach-Retty, Curd Jürgens, Heinz Rühmann, Johannes Heesters, Vilma Degischer, Hermann Thimig, Helmut Qualtinger und Karl Farkas, aber auch das Regiemonument Billy Wilder – persönlich kennen zu lernen. Die Begegnungen mit diesen ganz Großen sind unauslöschlich in mir gespeichert. Und ich habe viele der Gespräche, die ich mit ihnen führte, auf Band aufgenommen, um in Erinnerung zu bewahren, was nicht verloren gehen soll.

      Ihnen und einigen anderen ganz Großen ist dieses Buch gewidmet.

      GEORG MARKUS

      Wien, im Juli 2000

ABSCHIED VON EINER LEGENDE
DAS JAHRHUNDERT DER WESSELY

      Über die Frage, wann das alte Jahrhundert tatsächlich zu Ende ging, wurde viel gerätselt. Am 31. Dezember 1999, sagen die einen. Am 31. Dezember 2000, meinen die anderen. Theaterfreunde freilich lassen weder den einen noch den anderen Tag gelten. Für sie endete das Jahrhundert am 11. Mai 2000, exakt um 21.30 Uhr. Da ist die große Paula Wessely gestorben. Damit also war das Jahrhundert vorbei und ein neues begann.

      Denn das 20. Jahrhundert, das war die Wessely. Unsere Großeltern haben schon geschwärmt von ihr, und wir taten es, seit wir denken können. Gerhart Hauptmann und Carl Zuckmayer schrieben ihr die Rollen auf den Leib; George Bernard Shaw drängte darauf, sie kennen zu lernen; und Ingrid Bergman antwortete, als man sie fragte, wer ihr Vorbild sei: »Die Wessely!«

      Ich hatte oft die Freude, dieser Frau, der Wessely, zu begegnen, beruflich und privat. Und es war jedesmal ein Erlebnis. Einmal, im Juni 1991, wurde im Hotel Sacher eine Edition ihrer besten Filme auf Video vorgestellt. Ich saß an diesem Abend neben ihr und fragte sie, irgendwann nach dem Dessert, beiläufig, ob sie sich die Filme zu Hause ansehen würde.

      »Ja, Maskerade«, antwortete Paula Wessely, »Maskerade möchte ich gerne noch einmal sehen. Aber leider – ich besitze kein Videogerät.«

      Eher aus Höflichkeit denn in der Annahme, sie würde von meinem Angebot Gebrauch machen, erwiderte ich, dass ihr mein Recorder jederzeit zur Verfügung stünde.

      Ein paar Wochen später erschien sie tatsächlich in meiner Wohnung. Und sah sich Maskerade an.

      Ich wusste an diesem Nachmittag nicht recht, auf welche Wessely ich mehr achten sollte – auf die neben mir sitzende oder auf die im Film agierende, fand aber einen guten Mittelweg.

      Nach einer halben Stunde etwa – im Ballsaal, bei ihrer ersten Begegnung mit Adolf Wohlbrück – holte die junge Wessely in ihrer Rolle als Leopoldine Dur zu einer wunderbar grazilen Handbewegung aus, mit der sie aber im Rückblick nicht ganz zufrieden schien. »Zu dumm«, unterbrach die neben mir sitzende Paula Wessely die im Film agierende, »zu dumm, das hätte ich anders machen sollen.« Und sie zeigte mir vor, wie’s vielleicht besser gewesen wäre.

      Auch wenn die kleine Begebenheit nicht wirklich weltbewegend war, bleibt mir unvergesslich, dass die – wie viele meinen – größte Schauspielerin des Jahrhunderts, als sie ihren berühmtesten Film wieder sah, mit einer kleinen Handbewegung, die sie vor sechzig Jahren durchführte, nicht ganz zufrieden war.

      Das alte Winzerhaus in der Himmelstraße am Stadtrand von Wien, in dem sie ihr halbes Leben verbrachte, strahlt so viel Ruhe aus und ist voll von Erinnerungen. Die Erzählungen der Paula Wessely waren mit keinem anderen Gespräch zu vergleichen. Da war das Ereignis, einer Jahrhundertkünstlerin zu begegnen, da war der Zauber ihrer Sprache, der Klang, dieser einzigartige Klang.

      Für ein Interview mit der Wessely – so man je das Glück hatte, eines zu bekommen –, musste man sich viel Zeit nehmen. Man ging hin, sprach mit ihr, nahm alles, was sie sagte, auf Band auf, schrieb es zu Hause nieder, kam wieder zu ihr zurück. Korrigierte das Geschriebene, kam noch einmal, korrigierte das Korrigierte … Bis der letzte I-Punkt stimmte, bis alles so da stand, wie sie ihre Worte im Druck vorzufinden gedachte. Ja, wenn jemand ein Leben lang so präzise ist im Rollenerarbeiten, in der kleinsten Bewegung, in jeder Nuance des gesprochenen Wortes, dann ist er auch präzise, wenn es gilt, etwas aus diesem Leben niederzuschreiben. Es war anstrengend, zweifellos. Aber faszinierend.

      Sie erzählte damals aus ihren Erinnerungen an Kindheit und Jugend, über ihre Eltern und die Tante Josefine – gesprochen: »Tant’ Josefin’«. Sie sprach über ihr Leben mit Attila Hörbiger, ihre Film- und Theaterstationen (»Karriere dürfen Sie nicht schreiben, das klingt so schrecklich eitel«), über ihre Töchter, über die Religion und den Tod.

      »Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich hundert«, schmunzelte Paula Wessely, als sie mir – rund ein Jahr nach unserem gemeinsamen »Maskerade-Erlebnis« – die Erinnerungen an ihr Leben anvertraute. Die langen Gespräche damals, die sich über mehrere Wochen hinzogen, waren gleichzeitig das letzte große Interview ihres Lebens. So viel hatte sie erlebt, dass sie selbst es nicht fassen konnte, erst 85 Jahre alt zu sein.

      Von Millionen bewundert, angehimmelt zu werden, das war ihr nicht in die Wiege gelegt worden. Sie kam als Tochter des Fleischermeisters Carl Wessely und seiner Frau Anna, geb. Orth, am 20. Jänner 1907 in der Vorstadt Wien-Sechshaus zur Welt. Ihre Tante, die große k. u. k. Hofschauspielerin Josefine Wessely, war die Schwester ihres Vaters, doch sie war, als Paula geboren wurde, schon seit zwanzig Jahren tot. »Dennoch hörte und las ich in meiner Jugend viel von der Tant’ Josefin’ und vom alten Burgtheater, an dem sie engagiert war. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages selbst dort auftreten würde. Die Scheu vor dem großen Haus war ungeheuer.« Josefine Wessely wurde als Luise Miller, als Klärchen und als Gretchen gefeiert. Sie starb im Alter von nur 27 Jahren während eines Theatergastspiels in Karlsbad.

      »Mein Vater«, setzte Paula Wessely fort, »war ein begeisterter Theatergeher, meine Mutter wäre gar zu gerne Tänzerin geworden.« Mit fünfzehn, in der Bürgerschule, wusste Paula bereits, »dass das Theater mein Wirkungskreis in späteren Jahren werden soll«.

      Dabei wollte sie ursprünglich Lehrerin werden. »Ich habe als Kind gerne Schule gespielt. Mir war aber sehr bald klar, dass ich für den Lehrberuf viel zu ungeduldig gewesen wäre. Die Entscheidung fiel durch meine Deutschlehrerin Madeleine Gutwenger, die mich zum Vorsprechen in die Akademie für Musik und darstellende Kunst brachte.«

      Durch Zufall fiel mir vor ein paar Jahren eine Ausgabe der Theaterzeitschrift Die Bühne vom 11. Dezember 1924 in die Hände, in der sich ein Kritiker unter dem Titel »Theater der Schauspielschüler« als Prophet in Sachen Schauspielkunst versuchte. In seinem Bericht von einer »Übungsaufführung der Akademie für darstellende Kunst« glaubte der Rezensent in Wallensteins Lager die »Marketenderin Mizzi Vlck als kommende Hansi-Niese-Begabung« zu erkennen. Für nicht minder talentiert hielt er »die Damen Duhm, Hradsky und Buschek sowie die Herren Schwandner, Zechel und Aichinger«.

      Unnötig zu erwähnen, dass kein einziger der von dem Kritiker »entdeckten« Künstler in die Theatergeschichte eingegangen ist. Neben der Betrachtung in der Bühne findet sich jedoch ein Foto der gesamten Schauspielklasse, also auch jener Damen und Herren, die der Kritiker nicht für würdig befunden hat, als Begabungen zu erwähnen.

      Und auf diesem Foto ist klar und deutlich Fräulein Paula Wessely zu erkennen.

      Womit besagtem Kritiker eine der bedeutendsten Schauspielerinnen des Jahrhunderts nicht weiter aufgefallen wäre. Die Wessely schmunzelte, als ich ihr den Artikel zeigte. »Ist doch ein Glück, dass mich der Herr Redakteur nicht erwähnt hat. Sonst wär’ vielleicht nichts aus mir geworden.«

      Karl

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