Österreich liegt am Meer. Helmut Luther

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Österreich liegt am Meer - Helmut Luther

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Gold, Akanthusblättern und Engeln verzierten Altäre bleiben stark der alpenländischen Schnitztradition verhaftet. Könnten aber, schließlich werden seine ersten Werke in der Hauptstadt auf 1687 datiert, von »unserem« Strudel stammen. Piergiorgio Comai hält das jedoch für unwahrscheinlich und tippt auf einen namensgleichen Verwandten. Ein Historiker aus dem Nonstal hingegen behaupte das Gegenteil, erzählt mein Begleiter. »Wie alle Lokalpatrioten möchte er ein ruhmvolles Licht auf den Heimatort werfen – und ignoriert unbequeme Fakten.«

      Klarheit verschaffen vielleicht die Bücher im Pfarrhaus von Cles. Im Erdgeschoss des Gebäudes, aus dessen Grundmauer eckige Steine hervorragen, wuchtet Don Renzo einen dicken Lederband nach dem anderen auf seinen Bürotisch. Gemeinsam durchforsten wir die alten Bücher und stoßen bald auf eine Eintragung im Heiratsregister, wo unter dem 4. September 1611 in ausladenden Buchstaben die Eheschließung von »magistrum Paulum Strudl de Mitebolt et Antoniam f(i)g(liam) cavalier de Clesio« vermerkt ist. »Mittenwald – Bavaria«, hat jemand mit Kugelschreiber an den Rand notiert – ich bin nicht der Erste, der hier nach den Brüdern Strudel forscht. Dieser Magister gilt allgemein als der lokale Stammesgründer. 1612 lässt das Ehepaar in Cles einen Alexander, 1612 einen Peter und 1621 einen Johannes taufen. Doch im Cles jenes Jahrhunderts gibt es viele Strudel, die heiraten, Kinder taufen lassen und sterben. Für den Laien scheint es unmöglich, in dem Labyrinth gleichlautender Namen die drei Künstler zu entdecken, die in Wien Karriere gemacht haben. Biograf Manfred Koller gelangt zum Schluss, dass »die lückenhafte Überlieferung der Namen … ein eindeutiges Urteil nicht mehr zu(lässt)«.

      Ich verabschiede mich also von Don Renzo. Nachdem ich in der Gelateria Veneta auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Eis gekauft habe, mache ich einen Rundgang durch die quirlige Fußgängerzone von Cles. Vom großen, nach dem Kardinal Bernhard von Cles benannten Platz schlendere ich die gepflasterte Hauptgasse in Richtung mittelalterliches Zentrum hinauf. Die Gasse ist von Patrizierpalästen gesäumt, dem Palazzo Assessorile etwa, einem wehrhaften Kasten aus dem späten Mittelalter. Einst gehörte er den Grafen von Thun, später war er Sitz des Gerichts und heute finden hier Konferenzen sowie Kunstausstellungen statt. Erfreulicherweise gibt es in der Fußgängerzone viele Sitzbänke, wo man bequem das Treiben rundherum beobachten kann. Die Via Fratelli (Brüder) Strudel erinnert an die großen Künstlerbrüder, man fragt sich als Besucher allerdings, warum dafür ausgerechnet diese bescheidene Sackgasse ausgewählt worden ist, die wie ein überflüssiger Blinddarm von einer breiten Hauptstraße herabhängt. Auch das Caffè Bertolasi bietet der Fantasie wenig Möglichkeiten, sich das bunte Leben zu Zeiten der Strudel-Brüder vorzustellen, obwohl man hier einen wunderbar schaumigen Cappuccino trinken und von der Terrasse der flirtenden Dorfjugend zusehen kann. Wo heute das Caffè steht, soll sich einst das »Strudelhaus« befunden haben, heißt es auf einem Faltblatt, das mir die Dame im lokalen Tourismusbüro reichte, nachdem sie lange in einer Schublade herumgekramt hatte. Aber sicher ist auch das nicht. Es bleiben also nur die Werke, welche die drei Brüder oder zumindest ihre Verwandten der Nachwelt nicht nur in Vervò, sondern auch in Cles und anderen Orten des Nonstales hinterlassen haben. Aber vielleicht ist das für Künstler ohnehin die angemessenste Art der Erinnerung.

       Pezzi grossi – schwere Brocken

       VILLA LAGARINA – NOGAREDO

      Heute kennen nur mehr Eingeweihte die großen Namen, die mit Villa Lagarina und Nogaredo verbunden sind.

      Die allermeisten Urlauber rasen an diesen Orten vorbei und ahnen nicht, was sie sich entgehen lassen. Nach kurzer Fahrt über die Brennerautobahn biege ich bei Rovereto-Nord rechts ab nach Villa Lagarina. Das Viertausend-Einwohner-Dorf bildet ein altes Weinbauzentrum, in das sich freilich in den vergangenen Jahrzehnten neben der Bahntrasse und der Autobahn hässliche Gewerbe- und Industriehallen vorgefressen haben. Mein erstes Ziel hier ist die Pfarrkirche Santa Maria Assunta. Seit dem 15. Jahrhundert stellt das ursprünglich romanisch-gotische Gotteshaus den geistlichen Mittelpunkt der mächtigen Feudalherrschaft der Lodrons dar. Paris Lodron, Reichsfürst und Erzbischof von Salzburg, beauftragte Mitte des 17. Jahrhunderts den aus der Gegend von Como stammenden Architekten und Bildhauer Santino Solari, die alte Pfarrkirche im barocken Stil umzugestalten.

      Das schwere, nach Osten zur halbrunden Piazza ausgerichtete, hölzerne Portal von Santa Maria Assunta bleibt an diesem Vormittag verschlossen. Daher gehe ich rechts gegen den Uhrzeigersinn um das Gotteshaus herum und hoffe auf eine geöffnete Seitentür. Die Tür gibt es zwar, aber sie ist ebenfalls geschlossen. Noch gebe ich nicht auf, denn aus einem flachen Nebengebäude neuerer Bauart dringt Männergelächter. Den Stimmen nachgehend, treffe ich einige Herren, die vor dem Nebengebäude rauchend herumstehen und aus Plastikbechern dunklen Wein trinken. Hier sei der Altentreffpunkt, »und dass wir hierher gehören, sieht man doch, he, he!«, erklärt ein rundlicher Kerl mit Stoppelfrisur sowie nicht mehr ganz intakten Zahnreihen, indem er auch mir einen Becher reicht. »Salute!«, »Prost!«, fordert Paolo Zandonai mich zum Trinken auf und erzählt, dass schon Mozart den lokalen Rotwein Marzemino im Don Giovanni besungen habe. »Also sind wir hier berühmt!«

      Castel Noarna, Stammsitz der Lodrons

      Ich erfahre von Paolo Zandonai, dass der Komponist auf seinen insgesamt drei Italienreisen zwischen 1769 und 1773 stets im nahen Rovereto haltgemacht und dort am 26. Dezember 1769 sein erstes Konzert auf italienischem Boden gegeben habe. Darauf sind meine Trinkgenossen in Villa Lagarina mächtig stolz. Völlig zu Recht, wie eine ausführlichere Beschäftigung mit der lokalen Geschichte ergeben wird. Doch dazu später. Paolo arbeitete früher als Metallschlosser, jetzt hat er viel Zeit und vor allem die Nummer von Don Massimo in seinem Handy gespeichert. »Der Pfarrer wohnt nicht mehr hier, er ist für die halbe Talschaft zuständig«, sagt Paolo, bevor auch schon Don Massimo am Apparat ist. »Kein Problem«, heißt es anschließend, wir könnten den Schlüssel bei einer Nachbarin abholen, Paolo werde mich begleiten.

      Ein Glücksfall, denn es stellt sich heraus, dass Paolo Zandonai über persönliche Verbindungen zu den heutigen Nachfahren des Salzburger Erzbischofs Lodron verfügt. Seine Mutter Mariota sei von der Grafenfamilie als Waisenkind aufgenommen worden, erzählt der Mittsechziger, während wir zum Haus der Nachbarin spazieren. Mariota war 1919 sechs Jahre alt, als ihre Mutter an der Spanischen Grippe starb. Contessa Giuseppina gehörte demselben Jahrgang an wie sie, die beiden waren Vertraute von Kindesbeinen an. »Meine Mutter verbrachte ihr ganzes weiteres Leben – sie wurde fünfundneunzig Jahre alt – im Palazzo der Grafenfamilie, wo sie auch gestorben ist«, sagt Paolo. In früheren Jahren, erfahre ich weiter, sei Paolos Mutter als »bambinaia« für die Beaufsichtigung der Grafenkinder verantwortlich gewesen und später, als es offiziell längst keine »dienstbaren Geister« mehr gab, führte Mariota als letzte Getreue für Gräfin Giuseppina den Haushalt. Sie habe den Stammbaum der Lodrons auswendig gekannt und erinnerte die Kindheitsgefährtin, falls diese mal den Geburtstag eines Enkelkindes vergaß, an ihre Großmutterpflichten. »Wenn dann die Contessa seufzte: ›Mariota, du bist unser wandelndes Familienarchiv!‹, strahlte Mama, das war der Lohn ihrer Treue«, sagt Paolo Zandonai. Um zu erahnen, wie gut Mariotas Gedächtnis in besagter Angelegenheit funktionierte, muss man einen Blick auf den weitverzweigten Stammbaum der Lodrons werfen, wie er etwa in einem langen Wikipedia-Eintrag abgebildet ist, mit den verschiedenen Linien des auf das 11. Jahrhundert zurückreichenden Grafengeschlechtes samt älteren und jüngeren Primo- sowie Sekundogeniturlinien. Nur mit Ausdauer gewinnt man einen groben Überblick.

      Als Paolo das Kirchenportal aufgedrückt hat, blendet der überirdische Glanz der Fresken, Altäre, Heiligenstatuen, Stuckornamente, Marmorböden und Pilaster meine Augen – Santa Maria Assunta gilt als herausragendes Beispiel barocker Architektur in der Region. Vor allem die dem Heiligen Rupert geweihte Seitenkapelle ist mit dem Namen des Salzburger Fürstbischofs Paris Lodron verbunden – und mit dessen Baumeister Santino Solari. Dreiunddreißigjährig, am 13. November 1619, wird Lodron

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