Österreich liegt am Meer. Helmut Luther

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Österreich liegt am Meer - Helmut Luther

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Platz neben dem Kurhaus, ebenso die überdachte Wandelhalle. An diesem Tag sitzen hier nur einige einheimische Rentner, die ihre gebräunten Gesichter in die Sonne halten, während sich im Hintergrund schneebedeckte Gipfel in den Himmel recken: Fast so wie früher, wie man auf historischen Postkarten entdecken kann. »Ein Jännertag in Arco«, heißt es unter einem Bild, wo sich hinter Palmen und Blumenrabatten weiße Berge abzeichnen und im Vordergrund Damen mit Hütchen und Sonnenschirm sowie Männer in spitzen Schuhen mit Spazierstock plaudernd herumsitzen. Auf Prospekten werben die Hotels mit elektrischen Aufzügen, fünfsprachigem Personal (Russisch, Polnisch, Französisch, Italienisch, Deutsch), und, ganz wichtig, mit den Hinweis: »Keine Lungenkranken im Haus«!

      Mit dem Friedensschluss von 1866 sei dem nördlichen Gardaseegebiet eine Atempause gewährt worden, erklärt Mauro Grazioli. »Denn während Venetien und die Lombardei nach dem Dritten Unabhängigkeitskrieg an Italien abgetreten wurden, blieb Tirol beim Kaiserreich.« Der Mittsechziger, der mich am alten Bahnhof von Riva erwartet, ist einer der besten Kenner der lokalen Geschichte und hat sich bereit erklärt, mich auf einem Rundgang durch das 16 000-Einwohner-Städtchen zu begleiten. Vom Bahnhof, vor dem ein Stück der alten Bahntrasse erhalten geblieben ist – über dem Eingang prangt in roten Druckbuchstaben »Wartesaal« – schlendern wir durch eine Parkanlage zum Seeufer hinunter. »Da die Zeiten nach dem Frieden als sicher galten, wurde hier österreichisches und deutsches Kapital investiert, Arco und Riva verwandelten sich in touristische Boomtowns«, sagt Grazioli. Während sich die Nachbarstadt Arco als Winterkurort entwickelte, habe sich Riva stets als Seebad verstanden. Eine wichtige Rolle dabei spielte der Wiener Arzt Christoph Hartung von Hartungen. Er war der Enkel des Homöopathen Christoph Hartung, oberster Militärarzt der Provinzen Lombardei und Venetien, der durch seine homöopathische Heilung des Feldmarschalls Radetzky in ganz Europa bekannt geworden war. In den Fußstapfen seines Vorfahren zog Christoph Hartung von Hartungen 1888 nach Riva und gründete hier eine Natur- und Wasserheilanstalt. Als Mitglied der Anthropologischen Gesellschaft Österreichs sowie des Vereins der homöopathischen Ärzte Österreichs machte der charismatische Arzt sein Sanatorium zu einem Treffpunkt von Künstlern, Wissenschaftlern, Adeligen und wohlhabenden Bürgern. Zu seinen Freunden und Patienten gehörten u. a. Rudolf Steiner, Sigmund Freud, Clara und Hermann Sudermann, Karl May, Franz Defregger, Peter Rosegger, die Brüder Heinrich und Thomas Mann sowie Christian Morgenstern. Letzterer verschied in den Armen Hartungens am 31. März 1914 in Meran, wohin sich der Arzt mit seiner Familie zurückgezogen hatte. Eine Marmortafel an der Villa Helioburg in meiner Heimatstadt erinnert daran.

      Über das Wirken Hartungens findet man im heutigen Riva wenige Hinweise. Eine eher bescheidene Gasse, die von der Hauptstraße SS 240 abzweigt und zum ehemaligen Sanatorium führt, trägt den Namen »Via Christoph Hartung von Hartungen«. Schöner ist es, wenn man sich von der Seeseite nähert. Eine Promenade schlängelt sich am Ufer entlang. Rentner führen hier ihre Hunde aus. Auf den gekräuselten Wellen jagen Surfer im Zickzackkurs hin und her, das Aufschlagen ihrer Bretter ist bis ans Ufer zu hören – da hier am Nordrand des Gardasees praktisch immer der Wind weht, bildet Riva eine Hochburg der Segler und Surfer. Die sportlichen Gäste interessieren sich kaum für die Geschichte des ehemaligen Kurortes, daher bleibt auch das gelbgetünchte einstige Sanatorium unbeachtet, das sich wie ein verwunschenes Schloss inmitten eines weiten Parks erhebt. Üppiges Grün umwuchert die Freitreppe unter einem zum See ausgerichteten Balkon. Wo einst gebauschte Röcke über den Marmorboden streiften und Herren mit Einstecktuch den Damen Komplimente machten, hört man heute die Vögel zwitschern. Außer den Stadtgärtnern, die das Grün zurückstutzen, kommt hier selten jemand vorbei. Vom faschistischen Italien in eine Ferienkolonie für Kriegswaisen umgewandelt, wartet das Gebäude seit Jahren auf eine neue Verwendung. Unterdessen verblasst langsam die auf Italienisch verfasste Inschrift »Waisenkolonie« über der Freitreppe.

      Im Ersten Weltkrieg hatten italienische Geschütze Teile von Rivas Altstadt zerstört. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurden in die Bombenlücken neoklassizistische Bauten gestellt: »Den neuen faschistischen Machthabern ging es darum, die ›Italianità‹ der Region zu beweisen«, erklärt mein Begleiter Grazioli. Mit einem Sportstadion, einem Tennis- und Segelclub sowie zahlreichen Häusern im Zentrum schufen Mussolinis Architekten ein neues modernes Riva. Ein Juwel direkt am Seeufer ist die von Giancarlo Maroni entworfene Badeanstalt Spiaggia degli Olivi: Ein eleganter zweigeschossiger Bau mit zwei schlanken Ecktürmen, die einen Kreis einfassen. Im Erdgeschoss rundet sich eine geschlossene Fensterfront, im Obergeschoss wird die Fläche von einem Gebälk über luftigen Säulen begrenzt. Ins Wasser vorgeschoben, ragt ein Zehnmeterturm wie ein Ausrufezeichen empor. Zum See hin präsentiert die Badeanstalt ihre Prachtseite. Wie ein weißer Dampfer scheint sich die Spiaggia degli Olivi vor dem Hintergrund ineinander verschachtelter Altstadtdächer auf große Fahrt zu begeben. Mauro Grazioli erinnert sich an abendliche Feste im mondänen Seebad: »Als wir jung waren, trafen sich hier berühmte Gäste, Kellner wieselten herum, Damen im Abendkleid und Herren im Zweireiher tranken im Obergeschoss einen Aperitif, im Untergeschoss wurde zu Klaviermusik getanzt.« Für ihn und seine Freunde sei die Spiaggia degli Olivi ein Sehnsuchtsort gewesen. »Durch die Fenster im Untergeschoss warfen wir scheue Blicke hinein. Das Bad, zu dem wir ohne Geld keinen Zutritt hatten, verkörperte für uns die große Welt.« An seinem heutigen Zustand ärgern Grazioli Verschandelungen wie ein grüner Kunstrasen oder eine mit Bambusmatten kaschierte Wand, die den Lautsprecherlärm dämpfen soll. »Eine Schweinerei«, findet er und macht mit dem Handy ein Foto. »Vielleicht schreibe ich im Lokalblatt einen bösen Kommentar.«

      Gleich hinter dem Strandbad erhebt sich die Stadtfestung. Eine Zeitlang diente sie den Bischöfen von Trient als Residenz, unter den Österreichern befanden sich hier der Sitz der Militärverwaltung sowie das Hauptquartier der k. und k. Kriegsmarine am Gardasee. Heute ist in der ehemaligen Festung das Stadtmuseum untergebracht. Es beherbergt eine archäologische Sammlung und Werke regionaler Künstler, Teil des Museumkomplexes ist auch die Galeria Civica mit einer Dauerausstellung zu Leben und Werk des aus der Nachbarstadt Arco stammenden Malers Giovanni Segantini. Doch wir lassen diese Sammlungen alle links liegen, um ins oberste Stockwerk hinaufzusteigen, dort sind die Gegenstände meines Interesses ausgestellt: Ein schwarzer Zweispitz mit goldenem Emblem, ein silbrig-goldener Präsentiersäbel sowie ein ovales Ölgemälde in dunklem Holzrahmen, das einen großgewachsenen Mann in Uniform mit gezwirbeltem Schnurbart zeigt, an seiner Brust prangt ein Orden. Die Linke des Uniformierten umfasst locker den Säbelschaft, die Rechte einen schwarzen Hut. Eine Bildunterschrift erklärt auf Deutsch und Italienisch, dass es sich um ein Portrait Otto Karl Stöbers handelt.

      Seine märchenhafte Verbindung mit der Baronin sollte übrigens kein gutes Ende finden: Am 25. November 1896 kam bei der Geburt ein Töchterchen ums Leben, zwei Tage später war auch die Mutter tot. Mutter und Tochter wurden im Familiengrab der Lindegg in Rovereto begraben, während der Witwer eine neue Stelle im Nordosten des Riesenreichs antrat, um über den Schicksalsschlag hinwegzukommen. Aus den Quellen ist leider nichts über den Friedhof in Rovereto zu erfahren. Telefonanrufe in dortigen Pfarreien bleiben erfolglos. Und da auch mein lokaler Gewährsmann das Familiengrab der Lindegg in Rovereto nicht kennt, bleiben die Objekte im Museum die einzigen Erinnerungsstücke an den Eisenbahner, der es dank glücklicher Verbindung aus kleinen Verhältnissen zum ersten Stationsvorstand der »k. und k. Privatbahn Mori-Arco-Riva« gebracht hat.

       Wiege eines Bundeskanzlers

       RIVA

      Die Nachbarschaft hat etwas Symbolträchtiges: Auf einer weiten, von Zypressen begrenzten Grünfläche, einen Steinwurf vom Viale Lutti entfernt, steht ein Denkmal mit den Namen junger Männer, die an dieser Stelle im Kampf »gegen den Nazifaschismus gefallen sind.« Und vor der Eingangstür des Hauses Nummer 5 hängt eine Tafel, die erklärt, dass hier »il cancelliere austriaco Corrado Schuschnigg« zur Welt gekommen ist. Corrado ist der ins Italienische übersetzte Name von Kurt und erinnert an den von 1934–38 diktatorisch regierenden österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg. Die einen sehen im Nachfolger von Engelbert Dollfuß den »austrofaschistischen« Totengräber der Ersten Republik, für die anderen ist Schuschnigg ein Märtyrer,

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