Österreich liegt am Meer. Helmut Luther
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Eines Tages, es ist nicht überliefert, ob es Sommer oder Winter war, hält vor dem halb verwaisten Bahnhof ein Landauer. Der von zwei Pferden gezogenen Kutsche entschwebt ein blasses, brünettes Fräulein. Weltläufiges Auftreten sowie das bodenlange eng taillierte Kleid lassen eine Adelige vermuten, die hier auf einen Verwandten wartet, der mit dem Zug aus Wien eintreffen wird. Stöber, ihren fragenden Blick auf die Fresken bemerkend, spricht sie an – als Schöpfer der Bilder, wie er mit bescheidenem Stolz erwähnt, wäre er auf ihr Urteil gespannt. Es muss positiv ausgefallen sein. Denn als der Vater des hübschen Fräuleins aussteigt, Baron Melchior Josef von Lindegg, Herr zu Weissenberg, Marbach, Arndorf und Lizzana, war das Entscheidende bereits geschehen. Auf seine Güter in Lizzana bei Rovereto zurückgekehrt, fiel dem Baron zunächst nichts Merkwürdiges am Benehmen seiner Tochter auf. Doch selbst ein viel beschäftigtes Familienoberhaupt beginnt irgendwann Fragen zu stellen, wenn in seinem Haus getuschelt wird, die Mutter der Tochter vielsagende Blicke zuwirft und Letztere, bisher von ausgeglichener Wesensart, häufig zwischen Übermut und Niedergeschlagenheit schwankt. Früher hatte sich die sonst in großstädtischen Kreisen verkehrende Tochter Luigia auf dem Land stets gelangweilt und in ihren Kommentaren etwas hochmütig über die nicht in Konversation geübten einfachen Menschen geurteilt, nun entdeckte sie plötzlich die Freuden des Landlebens, gelegentlich entschlüpfte ihr auch die eine oder andere mitfühlende Bemerkung, die besagte, dass bestimmt auch Ungebildete aus den niederen Schichten, die weder Unterricht noch Privatlehrer gehabt hätten, Talent haben konnten und durch Fleiß und Rechtschaffenheit Anerkennung durch Höhergestellte verdienten.
Schloss von Erzherzog Albrecht in Arco
Um es kurz zu machen: Der Baron musste schließlich nachgeben. Er musste in die unstandesgemäße Verbindung seiner Tochter mit dem kleinen Eisenbahner einwilligen. Schließlich war er ein moderner Mensch, der sich dem Fortschritt nicht verschließen wollte, sofern man sich profitabel arrangieren konnte. Und der Baron hatte eine Idee: Das schon in den 1860er-Jahren lancierte Projekt einer Schmalspurbahn zwischen Mori, Arco und Riva war zwischenzeitlich ins Stocken geraten. Wie wäre es, wenn man sich einschaltete, den Plan auf eine solide finanzielle Basis stellte und nebenbei auch ein kleines innerfamiliäres Problem einer akzeptablen Lösung zuführte? So geschah es. Der Baron gewann einen finanzkräftigen Bankier aus Bozen und mit Rudolf Stummer Ritter von Traunfels einen erfahrenen und erfolgreichen Eisenbauingenieur aus Wien, der ein neues Projekt ausarbeitete. Im Oktober 1889 erhielt Stummer die Konzession für den Bau einer 760mm-Schmalspurbahn, wie sie damals im bosnisch-herzegowinischen Bergland gerade mit Erfolg eingesetzt wurden.
Ein mit Lindegg befreundeter Baron soll sich persönlich an den Kaiser gewandt haben und Otto Karl Stöber erhielt die Versetzung, im Jänner 1891 trat er seinen Dienst als Capostazione der neuen Eisenbahnlinie mit Sitz in Riva an. Das Monogramm mit den geschwungenen Buchstaben M. A. R. auf den Mützen der Eisenbahner hat nach den Erinnerungen seines Sohnes der künstlerisch begabte Capostazione persönlich entworfen. Am 14. Mai 1892 heirateten die Baronin Luigia de Lindegg und der Bahnhofsvorsteher in der Kirche San Marco von Rovereto. Mit der Lokomotive »Pinzolo«, der modernsten, die von der Bahngesellschaft damals eingesetzt wurde, fuhr der festlich dekorierte Hochzeitswagen die gut vierundzwanzig Kilometer nach Riva.
Es folgten die goldenen Jahre für die M. A. R. und den Tourismus am nördlichen Gardaseeufer. Im Mai 1891, nach nur wenigen Betriebsmonaten, konnte die »Gazzetta di Trento« über das stetig wachsende Passagieraufkommen jubeln: 16 000 Fahrgäste wurden im Monat Februar gezählt und 28 000 für den Monat März, die insgesamt neuntausend Florin für die Tickets bezahlten. »Von diesen großartigen Zahlen könnt ihr ableiten, dass die viel geschmähte Eisenbahn beträchtlichen Nutzen gebracht hat, ein Zeichen für die Wiedergeburt der beiden Geschwisterstädte Arco und Riva«, schleudert die »Gazzetta« den Bahnkritikern entgegen. Denn vorausgegangen waren hektische Debatten zwischen Bahn-Befürwortern und Gegnern. Einen Höhepunkt erreichten die Konflikte während einer Ratssitzung in Riva, als ein Abgeordneter die Meinung der Opposition auf den Punkt brachte: »Die geplante Bahn dient den Interessen Rivas nicht, im Gegenteil, sie schadet ihnen.« Über den Erfolg sollte der Kritikerchor bald verstummen.
In einem fiktiven, 1891 veröffentlichten Brief beschreibt die Autorin Helene Störkl ihre Eisenbahnfahrt auf der neu eröffneten Strecke von Mori nach Riva: »Man kann nur in erster oder dritter Klasse reisen. Die erste Klasse ist natürlich Touristen … und Kranken vorbehalten; die dritte Klasse hingegen der lokalen Bevölkerung und Reisenden wie uns, die mit wenig Geld eine fette Scheibe der Welt entdecken wollen.« In Mori fallen der Autorin windschiefe äußere Treppen an den Häusern auf und sie fragt sich, wie die altersschwachen Konstruktionen das Gewicht einer Person tragen könnten. »Hier sah ich auch den ersten Esel … geduldig trottete er entlang der Straße, während ihm ein braungelocktes Kind mit einem Stab in der Hand folgte … Hinter Mori fährt der Zug mitten durch die sommerlichen Weinberge. Und zwar so nahe an den Rebstöcken vorbei, dass wir manchmal nur die Hand auszustrecken brauchten, um die Früchte zu pflücken.« Der Niedergang der Bahnlinie folgte nach dem Ersten Weltkrieg. Im Krieg von Österreichern und Italienern schwer beschädigt, gab es in den 1920er-Jahren seitens der neuen Besitzer, der staatlichen italienischen Eisenbahn, wiederholt Projekte, die veralteten Dampflokomotiven durch moderne elektrische Triebwagen zu ersetzen. Doch dazu kam es nicht mehr. »Schmutzig, übelriechend« sei die M. A. R., schrieb der »Brennero« im Jänner 1936. Um dann am 13. Oktober desselben Jahres festzustellen, dass in »der Eisenbahn Rovereto-Riva Kerzenschein elektrischen Strom ersetzen muss. Vorigen Samstag gab es einen stundenlangen Lichtausfall.« Eine Woche später gab der »Brennero« seinen Lesern das endgültige Aus der Bahnlinie bekannt. Der öffentliche Personenverkehr würde fortan von einem Autobusdienst übernommen werden.
Wo einst die Eisenbahn durch das Loppiotal ratterte, verläuft heute ein asphaltierter Radweg. Zwar ist die Landschaft nicht mehr ganz so idyllisch, wie sie Helene Störkl vor mehr als einhundertzwanzig Jahren beschrieb, wählt man jedoch anstatt der neuen Schnellstraße den alten Weg durch Mori und Morivecchio, wird die Fahrt reizvoll. Man passiert wie gestriegelt wirkende Rebzeilen, ein Schild weist darauf hin, dass wir uns im Marze-mino-Anbaugebiet befinden. Am ausgetrockneten Lago di Loppio vorbei, heute ein schilfbewachsenes Naturschutzgebiet, passiert die Radstrecke hohe, nackte Felswände. Vom Eiszeitgletscher geschmirgelt, speichert das helle Kalkgestein die Sonnenwärme und reflektiert das Licht, sodass man unwillkürlich die Augen zusammenkneift. Eine Smaragdeidechse huscht im dürren Laub unter dem Macchiagebüsch davon, im Aufwind unter dem blauen Himmel kreist ein Greifvogel. Dann zwei weite Schleifen, um den Passo San Giovanni zu erklimmen, und schon hat man den Scheitelpunkt erreicht, rollt nach Nago hinunter, erspäht zwischen Zypressen den glitzernden azurfarbenen Gardasee, ein Anblick, der schon Goethe »herrlich belohnt(e)« – und nach ihm ein Heer von sonnenhungrigen Italienreisenden anzog.
Triebwagen der M. A. R.
Arco war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Wintersitz vieler Adeliger aus Österreich geworden, nachdem Erzherzog Albrecht vor den mittelalterlichen Stadtmauern seine schlossähnliche Villa errichten hatte lassen. Rund um die in einen großen Park mit Palmen, Mammutbäumen und Magnolien gebettete erzherzogliche Residenz entstanden Hotels und Sanatorien. Die meisten gibt es noch, mittlerweile allerdings bleiben nicht wenige unbewohnt,