Österreich liegt am Meer. Helmut Luther

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Österreich liegt am Meer - Helmut Luther

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Stichhaltige Beweise, dass Kurt Schusschnigg in der Nummer 5 des Viale Lutti zur Welt kam, existierten allerdings nicht, gibt Riccadonna zu. Denkbar wäre nämlich zum einen, dass sich die Mutter zur Niederkunft ins Militärspital begab. Zum anderen bleiben uns, was die Wohnadresse betrifft, nur die Erinnerungen eines inzwischen verstorbenen Hausbewohners, der eine österreichische Offiziersfamilie im zweiten Stock gekannt haben will. »So erzählte er mir in einem Interview – wir nehmen an, dass es sich um die Schuschnigg-Familie handelt«, sagt Riccadonna.

      Historische Ansicht von Riva

      In seiner Autobiografie »Ein Requiem in Rot-Weiß-Rot« spricht der ehemalige Kanzler von einer »sonnig(en), friedlich(en), unbekümmert(en)« Kindheit in Riva. Die unbeschwerten Tage am Gardasee endeten allerdings früh. Wie in den anderen Garnisonsstädten gab es auch in Riva keine höheren Bildungseinrichtungen. Daher wurde Kurt zum Abschluss der Volksschule zuerst nach Wien Hütteldorf geschickt, bevor ihn sein Vater 1907 im privaten Elitegymnasium Stella Matutina der Jesuiten in Feldkirch anmeldete. Der Tagesablauf der Zöglinge dort war bis ins Detail festgelegt. Die Zeiten für Unterricht, Sport, privates Studium und das Gebet waren für alle verpflichtend, Privatsphäre oder Rückzugsräume waren nicht vorgesehen. Mit acht Wochenstunden Latein, später kam Griechisch hinzu, dominierte die klassische Bildung. Der fleißige und vife Schüler Schuschnigg gehörte bald zu den Jahrgangsbesten, eine besondere Begabung bescheinigten ihm die Lehrer im Musikalischen. Es folgten die Militär- und Kriegsjahre als Soldat in Istrien und anschließend bei den Isonzoschlachten, im Zuge derer Schuschnigg mehrere Tapferkeitsmedaillen erhielt. Nach Beendigung des Studiums folgten die Eröffnung einer Rechtsanwaltskanzlei in Innsbruck und der Beitritt zur Christlichsozialen Partei. Auf diesem Weg stieg Schuschnigg rasch zum hohen Politiker und schließlich zum Bundeskanzler auf. Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager lebte Kurt Schuschnigg lange in den USA und kehrte erst 1968 in die Heimat zurück, wo er 1977, nach Jahren völliger Zurückgezogenheit, in Mutters in Tirol starb.

      Ob Kurt Schuschnigg seine Geburtsstadt später noch einmal besucht hat, kann nicht zweifelsfrei in Erfahrung gebracht werden. Es gibt jedoch Indizien und dabei spielt Don Giovanni von der Pfarrkirche Santa Maria Assunta eine wichtige Rolle. Ein Anruf von Riccadonna genügt. Ja, er sei gerade im Pfarrhaus, sagt der Geistliche, der auswärtige Gast möge gleich zu ihm kommen. Pfarrhaus und Kirche befinden sich im ältesten Stadtteil Rivas, hinter dem Tor des Heiligen Michael. Don Giovanni ist ein sanft lächelnder Herr in den Siebzigern, den seine Beschäftigung mit den letzten Dingen nicht von der neugierigen Frage abhält, warum ich mich für ein bestimmtes Taufregister interessiere. Nachdem das geklärt ist, öffnet Don Giovanni den feuerfesten Stahlschrank in seinem Arbeitszimmer und benötigt nur einen Griff, um den dicken, mindestens einen halben Meter hohen Band in braunem Kalbsleder aus dem Regal zu wuchten, auf dessen Rücken »Documenti Battesimo« steht. Unter dem Datum 14. Dezember 1897 heißt es in gestochen scharfer Kurrentschrift: »Nacht’s halb vier: geboren Corrado Luigi Giuseppe Giovanni Antonio Schuschnigg. Vater: Artur Schuschnigg, Kaiserjägerregiment 3, geboren in Kufstein. Mutter: Anna, geb. Wopfner, Innsbruck.« Auch das Datum der Taufe ist festgehalten. Die Feier fand am 12. Jänner 1898 in der Kirche nebenan statt.

      Tafel am vermeintlichen Geburtshaus Kurt Schuschniggs in Riva

      Und dort gibt es eine weitere Überraschung. Nachdem wir das Gotteshaus durch den nördlichen Seiteneingang betreten haben, steuert Don Giovanni, sich kurz in Richtung Hauptaltar verneigend, zielstrebig auf die Chorempore zu, die wir über eine abgetretene Holzstiege erreichen. Oben zieht der Pfarrer eine Taschenlampe aus seiner Jacke hervor und tastet mit dem Lichtkegel im Halbdunkel die Orgelpfeifen ab, bis er rechts bei der kleinsten Pfeife fündig wird. Und dann kann auch ich lesen, was dort in die Plakette eingraviert wurde: »Dr. Corrado Schuschnigg« heißt es auf matt schimmerndem Kupfer, es ist der Name des Spenders der Orgelpfeife. Eingeweiht wurde das Instrument am 9. Juni 1940 mit einem feierlichen Konzert des Domorganisten von Trient, Don Attilio Bormioli. Ob Kurt Schuschnigg die Orgelpfeife persönlich überreichte, ob er sie schicken ließ oder bei einem lokalen Meister in Auftrag gab, ist nicht überliefert. Denkbar ist allerdings, dass er selbst noch einmal in die Geburtsstadt reiste. Und so stelle ich mir vor, wie der Bundeskanzler Mitte der 1930er-Jahre einige Tage Urlaub nahm, um sich in Riva am Gardasee von seiner schweren Amtsbürde zu erholen. Während er hier an die heiteren Kindheitstage zurückdachte, verfinsterte sich nördlich der Alpen der Himmel immer mehr, bis es zum »Anschluss« kam und schließlich der Krieg ausbrach. Aber das ist eine andere traurige Geschichte.

       Ein Landschaftsmensch

       NAGO

      Ist es Glück oder Pech, wenn einem bestimmt ist, die vorletzte Station zu bilden? Klar, dass in Nago niemand haltmacht, wenn am Dorfausgang nach langer Anreise zum ersten Mal der Gardasee ins Blickfeld kommt, zum Greifen nah, in seiner glitzernden Pracht. Das kleine Dorf bildet mit Torbole am Seeufer eine zusammengeschlossene Gemeinde. Reihen sich dort Sportanlagen, Hotels, Restaurants und Geschäfte für den Freizeitbedarf aneinander, so herrschen oben im Hügeldorf Nago Ruhe und Abgeschiedenheit, allerdings abgesehen von der Durchzugsstraße, wo sich hinter einem Kreisverkehr die Straßen gabeln: Links geht es hinunter zum See, rechts entlang der ehemaligen Bahntrasse nach Arco und weiter ins Sarcatal. An Wochenenden stauen sich hier schon frühmorgens die Urlauberautos, und wenn abends Tausende wieder zurück in die Städte strömen, bietet sich dasselbe Schauspiel. Gewiss konnte Carl Dallago die Auswüchse des Massentourismus nicht voraussehen, als er 1912 für sich und seine Familie hier in Nago ein Haus baute. Aber vielleicht ahnte er manches, als er ein Grundstück möglichst abseits am oberen Dorfrand wählte.

      Er nannte sich selbst einen Landschaftsmenschen. Er liebte die Natur, wanderte oft tagelang in den Bergen herum, auch seine Werke schrieb er nach Möglichkeit im Freien unter schattenspendenden Bäumen. Auf Fotos sieht Dallago wie ein Bauer aus, den man in einen Anzug gesteckt hat, mit gebräunter ledriger Haut, wie man sie nur unter der echten Sonne bekommt. Anarchist, Rebell, Naturapostel, Sonderling: So bezeichneten ihn Zeitgenossen. Dabei deutet, als Carl Dallago 1869 in Bozen in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie hineingeboren wird, nichts darauf hin, dass er später einmal einen ganz anderen Weg einschlagen wird. Als Karl Anton Maria getauft – erst später unterzeichnete er als Carl –, war Carl Dallago der Stammhalter, drei Brüder verstarben früh, ein vierter wird den geistlichen Beruf wählen.

      Die Urgroßeltern Joseph Dal Lago und Christina Alneider kamen aus dem Grödental und siedelten sich als Geschäftsleute in Borgo an. Der dort geborene Großvater Johann Peter – der zur Schreibung Dallago überging – wanderte nach Bozen aus, wo er unter den Lauben ein Manufakturkurzwarengeschäft eröffnete. Über dem Geschäft »Johann Peter Dallago«, das der Vater Josef Maria vom Großvater übernehmen wird, spielen sich die ersten Lebensjahre des späteren Philosophen und Schriftstellers ab. Nach dem Besuch der Volksschule in Bozen absolvierte Carl Dallago zwei Jahre das Franziskanergymnasium, scheint aber mit »ungenügend« in Latein am Ende der zweiten Klasse kein Vorzeigeschüler gewesen zu sein. Nach dem Wechsel auf eine italienische Realschule in Rovereto sowie dem Besuch der Handelsakademie in Innsbruck, wo er eine kaufmännische Ausbildung erhielt, endete Dallagos Schulkarriere 1888.

      Die weitere Laufbahn schien vorgezeichnet: Er trat in das väterliche Geschäft ein, widmete sich sportlichen Vergnügungen wie dem Radrennsport und dem Skifahren und heiratete 1892 die Kaufmannstochter Adelheid Auckentaler. Im selben Jahr nach dem Tod des Vaters übernahm er das väterliche Geschäft. Das Ansehen der Familie Dallago in Bozen – schon damals wurden Geschäftsinhaber unter den Lauben halb spöttisch, halb bewundernd »Laubenkönige« genannt – lässt sich am Nachruf auf Carls Vater im »Tiroler Volksblatt« ermessen: Er beanspruchte eine ganze Seite, nie, heißt es dort,

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