Österreich liegt am Meer. Helmut Luther
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Wie bei zahlreichen anderen Persönlichkeiten seiner Zeit verweist Kurt Schuschniggs Herkunft auf das bunte Völkergemisch des Habsburgerreichs. Vier der fünfzehn Kanzler der Ersten Republik (wobei Johann Schober zweimal Kanzler war, 1921-1922 und 1929-1930) wurden nicht im heutigen Österreich geboren. Kurt Schuschniggs Mutter Anna Wopfner stammt aus Innsbruck, seine musischen und rhetorischen Talente dürften ein mütterliches Erbteil sein. Väterlicherseits kann der Stammbaum bis ins 18. Jahrhundert zurückgeführt werden, als die Familie unter dem damals noch slawischen Namen »Susnik« im slowenischen Oberkrain lebte. Mit dem Umzug des Urgroßvaters Urban nach Klagenfurt wird der Schritt zur Germanisierung gemacht, und als dessen Sohn Alois sich in Tirol niederlässt, beginnt auch die militärische Tradition, welche noch die Erziehung und das Weltbild seines Enkels Kurt prägen wird. Alois nahm als Freiwilliger sechzehnjährig an den Kämpfen des Feldmarschalls Radetzky in Oberitalien teil. Für seine Verdienste in den Schlachten von Mortara und Novara sowie bei der Rückeroberung Venedigs wurde er zum Unterleutnant befördert und ins Gendarmeriekorps aufgenommen. Beim Dritten Unabhängigkeitskrieg 1866 focht Alois Schuschnigg erneut in Oberitalien und kletterte weiter auf der Karriereleiter der k. und k. Armee empor. Anlässlich des Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph 1898 wurde Schuschnigg, mittlerweile Oberst und Befehlshaber des Tiroler Landesgendarmeriekommandos, mit vielen anderen verdienten Offizieren in den Adelsstand erhoben und durfte sich künftig »Edler von« nennen.
Dem Beispiel des Vaters folgend, dessen Wahlspruch »Tapferkeit und Demut« lautete, wählte auch Artur Schuschnigg die militärische Laufbahn und wurde nach dem Besuch der Militärakademie in Wiener Neustadt und einem Intermezzo bei den Tiroler Kaiserjägern in Innsbruck 1894 in Riva del Garda stationiert. 1896 heiratete Artur in Innsbruck Anna Wopfner, im Jahr darauf kam bereits Sohn Kurt auf die Welt. Über die genaueren Lebensumstände der jungen Familie in Riva ist nichts bekannt. Kurt Schuschniggs britischer Biograf R. K. Sheridon hebt hervor, dass die an den Randgebieten der Monarchie stationierten österreichischen Offiziere durch ihre Stellung privilegiert waren, aber auch isoliert von ihrem kulturellen und sprachlichen Umfeld lebten. Der Alltag in Riva war von nationalistischen Animositäten geprägt. In Offizierskreisen mag eine herablassende Haltung gegenüber den Einheimischen zum guten Ton gehört haben. Umgekehrt eiferten Anhänger des Irredentismus gegen »pangermanistische Tendenzen« seitens der österreichischen Verwaltung. In seiner Autobiografie »Ein Requiem in Rot-Weiß-Rot« schreibt Schuschnigg, »dass das alte Österreich trotz schwieriger Verhältnisse … auch nach 1866 … deutschen Wesens blieb. Nicht zuletzt die Armee und die zentrale Verwaltung, die deutsche Kommando- und Wiener Amtssprache trugen ihren wesentlichen Anteil daran.«
Einen Eindruck vom Riva jener Zeit vermitteln Fotos, die mein Gewährsmann Mauro Grazioli in einem seiner Bücher zur lokalen Geschichte veröffentlicht hat: Neben Pferden, Droschken, bäuerlich gekleideten Dienstboten und Herren mit Zylindern sowie Damen in Glockenröcken bevölkern Soldaten die Straßen und Plätze. Säbel und Uniformknöpfe blitzen in der Sonne, dazu Embleme, Wimpel, Rangabzeichen. Man mag sich die Sirenentöne eines auslaufenden Schiffes hinzudenken, untermalt vom Geschrei der Marktleute, von schnarrenden Offiziersstimmen und salutierenden Wachposten. Als die Lombardei und Venetien 1866 an Italien verloren gingen und damit auch das dort errichtete Festungsviereck, wurde von den Österreichern Riva als »südlichste Spitze Tirols« zur Festung ausgebaut. Die grasüberwachsenen Sperren, Bunker, Geschützstellungen, Laufgräben mit Schießscharten sowie Mannschaftsunterkünften rund um die Stadt sind noch bestens erhalten. Einige habe ich bei früheren Besuchen mit Taschenlampe und gutem Schuhwerk durchstreift, um mir ein Bild vom Soldatenalltag jener Zeit zu machen. Mauro Grazioli weiß von sechzigtausend Männern aus der Region, »Welschtirolern«, die im Weltkrieg auf österreichischer Seite kämpften – die meisten in Galizien, damit sie nicht auf die eigenen Landsleute schießen mussten. »Dabei kamen gut Zehntausend ums Leben, darunter einer meiner Großväter«, erzählt mein Begleiter, als er mich zu den Gebäudetrakten hinter der zum Museum umgebauten Festung führt, welche den Österreichern als Kaserne dienten. Nach 1918 hätte man die hiesigen Kriegsheimkehrer als »Verräter« verunglimpft. »Der Nationalismus hier ist immer noch stark ausgeprägt«, sagt Grazioli.
Kurt Schuschnigg, österreichischer Bundeskanzler bis zum »Anschluss« 1938
Aber zurück zu Kurt Schuschnigg. Die Spurensuche muss bei der Festung beginnen. Dort befanden sich die Diensträume seines Vaters Artur, der bei Kurts Geburt den Rang eines Leutnants innehatte. Heute stehen die nicht als Museum genutzten Gebäudeteile leer, andere dienen als Depots und zeitweilig als Ausstellungsräume. Hinweise auf die österreichische Militärverwaltung lassen sich keine entdecken. Als Offizier musste Artur Schuschnigg nicht bei den Mannschaften in der Kaserne wohnen, nach Dienstschluss ging er heim zur Familie. Die kurze Strecke über die Via Fabio Filzi (die damals natürlich nicht nach dem von den Österreichern als Deserteur hingerichteten Irredentisten aus Trient benannt war) dürfte er zu Fuß zurückgelegt haben. Vielleicht gab er unterwegs bei einem der Bauern, die unter den Arkadengängen ihre Früchte anboten, eine Bestellung auf, die dann ein barfüßiger Junge ins Haus lieferte: Trauben in einem geflochtenen Korb, süße Feigen oder Zitronen aus dem nahen Limone, die, je nach Qualität, als fini, sopraffini und scarto bis nach Wien und Budapest geliefert wurden. Oder vielleicht kehrte Artur Schuschnigg auch in einem Café hinter dem zinnengekrönten Stadttor San Michele ein, um sich jetzt »privat« und etwas lockerer mit Kameraden über die neuesten politischen Gerüchte auszutauschen – die täglich aus der Hauptstadt eintreffenden Zeitungen boten reichlich Stoff für Klatsch.
Die kleinen Läden und Werkstätten entlang der kopfsteingepflasterten Altstadtgassen sind inzwischen verschwunden. Heute reihen sich hier Büros und Modegeschäfte aneinander. Doch das eine oder andere Café gibt es immer noch. Es ist einer dieser windigen Tage, an denen nur Touristen an den Tischen im Freien sitzen. Im höhlenartigen Inneren eines Lokals mit Patina habe ich einen freien Tisch ergattert. Gegenüber am Tresen unterhält sich lautstark eine Männerrunde mit Weißweingläsern in der Hand. Weiter im Hintergrund, wo ein Fernseher flimmert, genießen zwei junge Frauen zum Kaffee »Sachertorte«. Ich bestelle mir ebenfalls ein Stück. Und auch wenn die süße Kalorienbombe nicht ganz an das Original vom Café Sacher im Herzen Wiens heranreichen mag, stimmt sie jedenfalls bestens ein auf meine folgende Begegnung.
Um fünfzehn Uhr bin ich mit Graziano Riccadonna verabredet, auf dessen Initiative wurde zu Schuschniggs hundertstem Geburtstag am Haus im Viale Lutti die Erinnerungstafel angebracht. Riccadonna, pensionierter Gymnasialprofessor für Philosophie, ist ein eher kleiner Mann mit grauem Kinnbart. Er wohnt in einem 1960er-Jahre-Kondominium zwei Straßen hinter dem Viale Lutti und führt mich gleich in sein Studierzimmer, das er bis zur Decke mit Büchern angefüllt hat. Auf dem Schreibtisch hat Riccadonna mehrere Zeitungsartikel ausgebreitet, die er zum Thema Schuschnigg in Riva am Gardasee verfasst hat, außerdem Fotos von Pressekonferenzen sowie einer Feier anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel am mutmaßlichen Geburtshaus im Viale Lutti, zu welcher der damalige österreichische Generalkonsul in Triest, Arthur Schuschnigg, ein Nachfahre des Kanzlers, angereist war. Dann zeigt mir Riccadonna Kopien von Dokumenten, die belegen, dass Kurt Schuschnigg die ersten beiden Grundschulklassen