Österreich liegt am Meer. Helmut Luther

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Österreich liegt am Meer - Helmut Luther

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zur Welt. Doch im Mai 1900 sollte Carl Dallago in zwei Bozner Zeitungen mit einer Annonce erklären, dass er das Geschäft einem Partner übergebe, der es unverändert weiterführen werde. Hinter der lakonischen Mitteilung verbirgt sich eine dramatische Lebenswende, der Bruch mit allem Bisherigen. Dallago verließ seine Frau und die Kinder und wählte die ungesicherte Existenz eines freien Schriftstellers. Eine neue Frau an seiner Seite, Franziska Moser, veröffentlichte Dallago seine ersten Werke, Gedichte und lyrische Dramen. Er nahm Kontakt auf mit Künstlerkreisen in München und Wien. Vorübergehend hatte Carl Dallago die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen, ein Schachzug, um sich scheiden zu lassen, da es damals die Zivilehe nur in der ungarischen Reichshälfte gab. Er begann für Zeitschriften zu arbeiten und ließ sich 1904 nach längeren Aufenthalten dort endgültig mit der neuen Familie in Riva am Gardasee nieder, der Ehe sollten drei Kinder entspringen.

      Portraitfoto Carl Dallagos

      Mehrere Anrufe bei der Gemeindeverwaltung in Riva, um Dallagos ehemaligen Wohnsitz auszuforschen, bleiben erfolglos. Meine Bekannten vor Ort können mir in dieser Angelegenheit auch nicht weiterhelfen – und selbst sein Biograf Anton Unterkircher, der für die 2013 erschienene Biografie bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial erforscht hat, hält sich bedeckt, was die Wohnorte der ersten Jahre betrifft. In dem über vierhundert Seiten umfassenden Werk ist das Geburtshaus in Bozen mit Laubengasse 42 angegeben. Bei der Anreise habe ich mich dort umgesehen und unter besagter Adresse nur ein Kleidergeschäft, keine Namenschilder, die auf darüberliegende Wohnungen schließen lassen, gefunden. Auch keine Tafel erinnert an den bedeutenden Sohn der Stadt. Vielleicht ist das die logische Folge, wenn man sich vorher türenschlagend verabschiedet hat. »Wie ich keine Freude mehr hatte am Geschäftemachen, und wie es mich immer hinauszog in die liebe lichte Welt. – Wie mich darob alle schalten: meine Untergebenen und die Standesgenossen. Wie man noch mehr erboste, als ich mich von allem losriss«, schreibt Dallago im Rückblick.

      Dafür werde ich in Nago fündig, was nicht zuletzt ein Verdienst Tullio Rigottis ist. Der pensionierte Mitarbeiter einer Elek-trogesellschaft hat sich dafür eingesetzt, dass eine Straße im Ort nach Carl Dallago benannt wurde. Und: Rigotti ist im ehemaligen Haus Dallagos in Nago aufgewachsen, wo er heute noch lebt, vor dem Eingang ließ Rigotti eine Erinnerungstafel an den prominenten ersten Bewohner anbringen.

      Bevor ich Tullio treffe, suche ich nach der Via Carl Dallago. An der Durchzugsstraße, wo ein Mexikanisches Restaurant mit einem Riesenkaktus Kunden anzulocken versucht, lotst mich das Navigationsgerät auf die Via Europa. Diese heutige Nebengasse bildet den alten Weg zum See hinunter. Hier sind alle vorbeigekommen: Montaigne, Goethe, das Heer der Bildungsreisenden, prominente und weniger prominente Maler und Schriftsteller. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass Dallago, der notorische Fußgänger, vor hundert Jahren die damals noch staubige Straße entlang marschierte, mit aufgeknöpftem Hemd, das Jackett lässig über die Schulter geworfen, wie er auf Fotos zu sehen ist.

      In Riva lernte Dallago im September 1909 auch ein Prager Schriftstellertrio kennen, das mit der M. A. R. angereist war und in der günstigen Hotel-Pension-Riva gleich neben dem Bahnhof Quartier genommen hatte: die Brüder Max und Otto Brod sowie Franz Kafka. In seinem 1926 im »Prager Tagblatt« erschienenen »Nachruf auf eine Badeanstalt« erinnert sich Brod an die gemeinsamen Tage, die man träumend »auf den alten rissigen, von der Sonne durchglühten Steinen und Brettern der Badeanstalt mit dem klangvollen Namen Bagni alla Madonnina unterhalb der Ponalestraße« verbracht hat. Max Brod schreibt in besagtem Artikel auch über Carl Dallago. Dieser begleitete die Prager auf einem Ausflug zum Toblinoschloss im Sarcatal und »tauchte« im Madonnina-Bad mit seinem »kraftvollen bronzebraunen Leib aus dem Wasser« auf, um den jungen Freunden Gesellschaft zu leisten.

      Die Via Dallago zweigt von der Europastraße ab, die Via Montaigne in prominenter Nachbarschaft. Es ist hier wie so oft, wenn man die Hauptwege verlässt. Keine fünfzehn Minuten Fußweg vom überlaufenen Gardaseeufer entfernt, trifft man auf eine andere Welt. Vor einem Haus beweist ein kleiner Junge stolz seiner Großmutter, wie er schon ohne Stützräder Rad fahren kann. Ein sonnengebleichtes Ape-Dreirad kommt mir entgegen, hinten auf der Ladefläche Kisten und Schaufeln, vorne zusammengequetscht ein dickes Paar, das von der Feldarbeit heimkehrt.

      Mit Tullio bin ich am Parkplatz neben der Durchzugsstraße verabredet. Ich solle dort auf ihn warten, erklärte er am Telefon, man benötige ein sehr kleines Auto, um zu seinem Haus fahren zu können. Tullio erscheint in einem betagten Fiat Panda. Als wir einen kopfsteingepflasterten Platz mit einem runden steinernen Brunnen in der Mitte passieren und in eine wirklich enge Gasse einbiegen, wird klar, dass mein Begleiter nicht übertrieben hat. Während wir an Häusern aus eckigen Natursteinen vorbeikommen und man über wappenverzierten Bogeneingängen einen Blick auf dunkle Holzbalkone erhascht, erklärt Tullio lachend, dass er auch ohne enge Gassen ein kleines Auto besitzen würde. Früher hätten die Dorfbewohner auf den Balkonen die geernteten Maiskolben getrocknet. »In meiner Kindheit aßen wir Polenta, Polenta, Polenta – gab es mal Fisch oder ein Huhn, stürzten wir uns alle darauf.« Vor einem schulterhohen Mäuerchen parkt Tullio seinen Wagen, die Tafel an der Mauer erklärt auf Italienisch, dass hier von 1912 bis 1922 »der Naturphilosoph und Poet Carl Dallago« gelebt habe. »Bei der Einweihung musste ich eine Rede vor fünfzig Leuten halten, alles Uni-Professoren, ich war schrecklich aufgeregt«, sagt Tullio. Das Haus steht in einem Garten, so wie es 1912 erbaut worden ist: ein zweigeschossiger, viereckiger Klotz, mittelgroß, der Eingang nach Südwesten zum See ausgerichtet, darüber drei Zimmer mit Seeblick, zwei Fenster, dazu eines mit Balkontür. Die Fenster »weisen ins Freie, auf Berge und See und nach dem endlosen Raum darüber. Und verbinden so mit dem Endlosen …«, beschreibt Dallago das neue Wohnambiente. Und fordert weiter, dass der Mensch selbst »wie ein Haus« werden solle, »dessen vergängliche Leiblichkeit sich Fenster ausbricht, die ins Unvergängliche weisen.«

      Dallagos Wohnhaus in Nago

      Eine einfache, auf das Praktische reduzierte Bauweise war Dallago wichtig. Inspiriert von Adolf Loos, war er der Ansicht, dass sich das Gebaute der Umgebung angleichen, der Landschaft unterordnen solle. Später im Alter zog er den Schluss, zwar in dem, was man Karriere nennt, »nichts erreicht« zu haben, es aber andererseits mit dem »ornamentlose(n) Mensch(en)« weiter als Loos gebracht zu haben. Vom Garten mit dem alten Steintrog aus Dallagos Zeiten geht der Blick zum See hinunter, auf dem weiße Segelboote tanzen, rechts auf einem kleinen Hügel holt sich die Natur allmählich die Überreste des von den Franzosen während der Napoleonischen Kriege gesprengten Castello Penede zurück. Tullio zeigt ein altes Foto, auf dem das Haus und der Garten zu sehen sind, dort pflanzte Dallago einen Tannenbaum, eine Zypresse und eine Schirmkiefer. Der Garten sollte die hiesige Vegetation symbolisieren, »in der sich der Norden und Süden begegnen«, vermutet mein Gastgeber. Für den Nietzsche-Schüler Dallago bedeutet der Süden eine Landschaft, »die Großartigkeit aufkommen« lässt und die schöpferischen Kräfte weckt. Von den Bäumen steht heute nur mehr die inzwischen haushohe Kiefer, in ihrem Schatten verbringt Tullio manchen Sommernachmittag. 1910 hatte Dallago in Innsbruck Ludwig von Ficker besucht – es kam zu Gegenbesuchen am Gardasee, man beschloss die Gründung einer neuen Zeitschrift: »Der Brenner«, deren Herausgeber Ludwig von Ficker war. Dallago wurde in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Mitarbeiter.

      Über Ficker lernte Dallago Georg Trakl kennen. Im April 1914 folgten Ficker und Trakl einer Einladung Dallagos und besuchten ihn in Nago. Man saß abends beim Wein zusammen, beriet sich, diskutierte. »Es ging um gegensätzliche Anschauungen über Religion, Trakl war Atheist, Dallago neigte einem mystischen Christentum zu«, sagt Tullio. Trakls Gedicht »Gesang einer gefangenen Amsel« ist eine Frucht dieser Tage in Nago. Für Tullio Rigotti besteht kein Zweifel: Im Gedicht sei von der hiesigen Landschaft die Rede, von einem Ölbaum und »grünem Gezweig«; die Freunde hätten nicht im Wirtshaus gehockt, »sondern hier, am Steintisch

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