Wien. Dietmar Grieser

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Wien - Dietmar Grieser

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Leute waren besser gekleidet, undenkbar dort solche trödelnden Straßenbahnen, solche abscheulichen Wohnungen mit Stiegenhaus-Klo.

      Ich kam mit dem Nachtzug auf dem Westbahnhof an, also auch noch zu einer unmöglichen Zeit: 6 Uhr früh. Und dann dieser missmutige Kleinbeamte am Gepäckschalter, der meinen Koffer in Verwahrung nahm, das fensterlose Hotelzimmer im Dunstkreis der Donaukanalratten, nur ein Masochist konnte solch geballter Unbill Reize abgewinnen. Es war wohl ein bisschen so, wie man später aus dem Westen in den Osten reiste – es deprimiert, aber es richtet zugleich auch auf: Da hat’s unsereins halt besser, schau dir das ein paar Tage an, dann nix wie wieder weg.

      Ich aber blieb.

      Es traten Ereignisse in mein neues Leben, die mich in eine Art permanentes Entzücken versetzten – und zugleich in Neugier, was denn wohl das Nächste sein werde. Eine Phase nicht enden wollender Prolongierungen.

      Ich wohnte damals mitten im Warenhausviertel der Mariahilferstraße, in einer der weniger turbulenten Seitengassen kaufte ich meine täglichen Lebensmittel ein. Ich war Stammkunde, man kannte meine Präferenzen, die Frau am Wurststand rief, sobald sie meiner ansichtig wurde, schon von Weitem ihr fröhliches »Zehn Deka Baskische – wie immer?«, und ich bejahte ebenso fröhlich. Auch als ich der »Baskischen« längst überdrüssig war, blieb ich dabei – die Ärmste hätte sich’s zu Herzen genommen.

      Dann, von einem bestimmten Tag an, blieb die Baskische aus, und so sehr sich die Händlerin auch bemühte, der Artikel war nicht wieder aufzutreiben. Mir kam es wie gerufen, nur sie schien damit nicht fertigzuwerden – immer wieder kam sie auf den wunden Punkt zurück, klagend das eine, zuversichtlich das andere Mal: Nur nicht verzagen, noch sei nicht alles verloren, sie werde schon wieder geliefert werden, die Baskische.

      Es kam der Tag, an dem ich aus dem 7. in den 3. Bezirk umzog, natürlich ging ich nun in andere Geschäfte einkaufen, und so sehr ich es mir auch vorgenommen hatte: Nie wieder betrat ich meinen lieben alten Greißlerladen von einst.

      Drei Jahre später kam ich an einem Sonntag, auf dem Weg zu einem Bekanntenbesuch, durch das bewusste Viertel. Eine Frau mittleren Alters, sonntäglich aufgeputzt, versperrte mir unter tausend Entschuldigungen den Weg: »Nicht bös’ sein, dass ich Sie mitten auf der Straße ansprech’, aber ich wollt’ Ihnen nur sagen, die Baskische wär’ wieder da.«

      Es war die Frau vom Wurststand. Sie war fest davon überzeugt, dass ich nur ausgeblieben war, weil sie mit ihren Bemühungen um die Wiederbeschaffung der Baskischen gescheitert war. Nun endlich, nach Jahren, war die Sache aus der Welt geschafft.

      Es mag schon sein, dass es in den großen Dingen sehr oft drunter und drüber geht in dieser Stadt – in der Art, wie sie sich in die kleinen verbeißt, im Bösen wie im Guten, stellt sie tagtäglich ihre eigenen Rekorde ein.

      Als seinerzeit die Mode der schulterlangen Männerhaare auch Österreich (und mich) erreichte, kam das Wort auf: »In Wien drehen sich sogar die Langhaarigen nach den Langhaarigen um.« Na schön, anderswo laufen sie eben aneinander vorbei. Auch das Sich-Umdrehen aus Missgunst ist noch immer eine Art von Kommunikation.

      Das Café H. im 3. Bezirk wurde mein erstes Stammquartier. Es lag günstig, nahm mich durch seinen unprätentiösen Gebrauchscharakter für sich ein und ließ sich vor allem in jeder gewünschten Weise nutzen. Ich weiß, es riecht nach Anekdote, doch es ist die reine Wahrheit: Wann immer ich eine heikle Situation zu bestehen, eine schwierige Verhandlung zu führen hatte, wählte ich dieses Lokal zum Austragungsort und gab den Besitzerinnen – zwei Schwestern, die sich den Tag- und Nachtdienst teilten – vorher die entsprechenden Direktiven: wie ich im gegebenen Fall anzureden, welche Aura um mich zu verbreiten, mit welchen Stichworten mir beizustehen sei. Es hat jedes Mal vorzüglich geklappt, und ich täusche mich nicht: Es hat den beiden auch noch Spaß gemacht.

      So also wird man Wiener?

      Es ist der Punkt gekommen, wo ich gestehen muss: Auch Erpressung war im Spiel. Es war zu einer Zeit, als ich ganz gut verdiente, eine mir befreundete Familie hatte einen momentanen finanziellen Engpass zu überwinden, ich sprang mit einem Darlehen ein. Schon wenige Monate später wäre ohne alle Mühe die Rückzahlung möglich gewesen, dennoch wurde sie von Jahr zu Jahr hinausgeschoben – und immer mit der Begründung: Du weißt, wie sehr wir an dir hängen, wir wollen nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst, am Ende gehst du weg aus Wien, wir haben beschlossen, das Geld auf ein Sperrkonto zu legen. Am Tag, als ich im Wiener Rathaus mein frisches Staatsbürgerschaftsdekret in Händen hielt, wurde das Konto geöffnet – wohlverzinst.

      Selbstverständlichkeiten darf ich hier beiseitelassen: dass es mir längst auch die Schönheit der Stadt angetan hatte, ihr kultureller Reichtum, das riesige Reservoir, aus dem ich schöpfen konnte, als ich begann, Bücher zu schreiben. Wien war und ist die ideale Bodenstation für meine literaturtopografischen Umtriebe. Alles an einem Ort, alles in Reichweite: Bibliotheken und Kunstsammlungen, Kulturinstitute und Botschaften, Verkehrsmittel und – die »richtigen Leut’«.

      Bald kam auch das anheimelnde Echo aufs erste Österreich-Buch: die stolze Hausbesorgerin, die darauf bestand, das Ereignis mit einem wappengeschmückten Guglhupf zu feiern, der patriotische Ministerialrat, der sich zu der Wunschvorstellung verstieg, den schreibenden Neubürger (wortwörtlich) »in die österreichische Nationalflagge einzuwickeln«. Gleichzeitig konnte ich lässig auf totale Assimilierung verzichten. Niemand hinderte mich daran, weiterhin »hinten« zu sagen, wenn ich – wie ortsüblich – »rückwärts« in die Straßenbahn stieg; im Gegensatz zu Bayerns Preußen kam ich ohne alle Landestrachtanbiederung aus, und wenn man, einem hiesigen Hang zur Slawisierung folgend, meinen deutschen Familiennamen mitunter zum böhmischen »Krisa« verfremdete, wertete ich es als Zeichen gelungener Integration in meine Wahlheimat Wien.

      Doch genug von mir. Wenden wir uns den anderen zu, den Großen, den Berühmten. Wie lief’s bei denen?

       Wahlwiener in der Politik

       Der Söldner aus Paris

       Prinz Eugen von Savoyen

      Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie und leidenschaftliche Sigmund-Freud-Antipode, hat dem Phänomen eines seiner Hauptwerke gewidmet: Studie über die Minderwertigkeit von Organen. Kernaussage: Jeder Mensch ist von seinem organischen Aufbau her unvollkommen. Aber ebendiese Minderwertigkeit ist es, die ihn zu außergewöhnlichen Kompensationsleistungen anspornen kann. Beispiel Clara Schumann: Weil sie von Kindheit an unter Sprechstörungen leidet, geht sie umso mehr in der Musik auf und wird zur meistgefeierten Klaviervirtuosin ihrer Zeit. Demosthenes, der größte Redner der griechischen Antike, ist von Haus aus ein Stotterer, der Komponist Friedrich Smetana leidet an einem Gehörfehler, der Maler Toulouse-Lautrec ist aufgrund einer Erbkrankheit kleinwüchsig und hinkt.

      Auch Prinz Eugen ist ein »Zwerg«. Wenn man Alfred Adlers Theorie folgt, wird er nicht trotzdem, sondern eben deswegen der größte Feldherr seiner Zeit.

      Kaiser Wilhelm II., dessen linker Arm verkümmert ist, legt sich ein besonders säbelrasselndes Gehabe zu – Schulbeispiel für Alfred Adlers zweite These: Organische Unzulänglichkeit stachelt nicht nur zu Kompensationsleistungen an, sondern begründet auch den Drang zur Macht. Um sich zu behaupten, versucht der scheinbar Unzulängliche umso vehementer, seine Mitmenschen zu beherrschen.

      Als der knapp zwanzigjährige Eugen Franz von Savoyen-Carignan den Entschluss fasst, das Habit des Geistlichen, das ihm so gar nicht passen will, gegen den Militärrock zu tauschen, und König Ludwig XIV. seine Dienste anbietet, weist ihn dieser aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit schroff zurück und treibt ihn so ins Lager Österreichs:

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