Wien. Dietmar Grieser

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Wien - Dietmar Grieser

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Um 1 Uhr ließ man die königliche Familie bei Schönwetter in den Garten gehen, und ich spielte bei dieser Gelegenheit mit dem kleinen Prinzen Ball oder mit der Wurfscheibe, ließ ihn laufen und andere Übungen machen. Um 2 Uhr gingen wir in den Turm zurück, wo ich das Mittagessen servierte.«

      In diesem Stil geht es in Clérys Protokoll weiter – bis zur Schilderung der Nachtruhe, die König und Kammerdiener Seite an Seite genießen. Auch sonst ist man gewohnt, alles miteinander zu teilen, und eines Morgens, als Cléry infolge eines Versäumnisses seiner Aufpasser beim Frühstück leer ausgeht, reicht ihm der König eine Hälfte seines Brotes: »Nehmen Sie dies, mir genügt der Rest.« Cléry lehnt das Angebot beschämt ab, doch der König besteht darauf.

      »Da konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten, und als Seine Majestät dies bemerkte, ließ auch er den seinen freien Lauf.«

      Die Stunde der Hinrichtung naht, Louis XVI. setzt sein Testament auf. Jean Baptiste Cléry, »der sich aus wahrer Anhänglichkeit zu mir an diesem Ort hat einschließen lassen, obwohl er fürchten mußte, Opfer seiner Treue zu werden«, möge man, so verfügt Seine Majestät, »meine Kleider, meine Bücher, meine Uhr, meine Börse und die anderen Kleinigkeiten aushändigen, die bei der Kommission deponiert worden sind«.

      Am frühen Morgen des Hinrichtungstages ministriert Cléry dem Gefängnisgeistlichen bei der letzten Messe; kniend nimmt der Diener den Segen seines Königs entgegen. Die beiden letzten Handreichungen, die sich dieser von seinem treuen Gefolgsmann erbittet, scheitern am Einspruch des Aufsichtspersonals: Weder darf er dem König, wie dieser es wünscht, die Haare schneiden, noch darf er ihm auf dem Schafott aus den Kleidern helfen. Lakonischer Bescheid des Kommissars: »Der Henker ist gut genug für ihn.«

      Letzter Eintrag in Clérys Tagebuch: »Ich blieb allein im Zimmer zurück, von Schmerz übermannt und beinahe von Sinnen. Trommeln und Trompeten verkündeten, daß Seine Majestät den Turm verlassen hatte. Eine Stunde später hörte man Artilleriesalven und Rufe ›Es lebe die Nation! Es lebe die Republik!‹ Der beste aller Könige war nicht mehr …«

      Jean Baptiste Cléry, schon vor der Revolution in königlichen Diensten, darf bei den neuen Herren mit keinerlei Nachsicht rechnen: Bis 1. März im Temple unter Arrest gestellt, wird er sechs Monate später auf seinem Landsitz, wohin er sich nach seiner Entlassung zurückgezogen hat, aufs Neue verhaftet und für die Dauer eines Jahres eingesperrt. 13-mal auf die Liste der Hinzurichtenden gesetzt, wird sein Name gleichwohl regelmäßig von unbekannter Hand gelöscht, und nach dem Sturz Robespierres im August 1794 geht Cléry endgültig frei.

      In Straßburg, wo sein älterer Bruder ein Handelshaus unterhält und als Armeelieferant gut im Geschäft ist, findet er als Rechnungsprüfer Unterschlupf, gleichzeitig beginnt er mit der Abfassung seiner Erinnerungen an jene fünf Monate im Temple; ein verschwiegener Schreiber geht ihm dabei zur Hand. Als das Gerücht aufkommt, Madame Royale, die Tochter »seines« Königs, solle im Austausch gegen französische Gefangene auf österreichisches Gebiet entlassen werden, unternimmt Cléry alles, sich ihr anzuschließen und fortan Prinzessin Marie Thérèse zu dienen. Nur – so einfach ist das nicht. Erstens zieht sich das Austauschverfahren in die Länge, zweitens hat er weder Pass noch Geld, und drittens müsste er seine Familie – Frau und drei Kinder – in Frankreich zurücklassen. So schickt ihn sein Bruder zum Schein auf Geschäftsreise in die Schweiz, und bei Basel gelingt es Cléry mit Hilfe von Freunden, heimlich die Grenze nach Österreich zu passieren. Via Augsburg gelangt er nach Wien, in Wels kommt es zu einem kurzen Zusammentreffen mit der 17-jährigen Marie Thérèse.

      Aus seinem Plan, in deren Dienste zu treten, wird freilich nichts: Österreich und Frankreich stehen miteinander im Krieg; der Wiener Hof unternimmt alles, die beiden voneinander fernzuhalten. Nur für sein Auskommen ist gnädig gesorgt: noch am 31. Jänner 1796 erteilt Kaiser Franz II. Obersthofmeister Fürst Starhemberg die Weisung, dem Ankömmling eine Starthilfe von 100 Dukaten sowie eine Pension von jährlich 800 Gulden zu gewähren.

      Auch die Wiener Gesellschaft nimmt den Franzosen freundlich auf; als sich seine Frau nach seinen Lebensumständen erkundigt, schreibt er ihr nach Frankreich, er diniere in den feinsten Wiener Häusern, ein Viertel des Tages bringe er »mit Promenaden, Visiten und Ruhen« zu. Seine Rolle in den letzten Tagen der französischen Monarchie macht Jean Baptiste Cléry zu einer interessanten Persönlichkeit in den tonangebenden Wiener Salons. Die berühmte Malerin Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun, die posthume Porträts des Königspaares vor Besteigen des Schafotts anfertigen will, lässt sich – von Petersburg aus – von Cléry in die Details einweihen, gibt jedoch, von seiner Darstellung geschreckt, ihren Plan wieder auf. Geschreckt ist auch Clérys jüngerer Bruder, der eine Stelle als königlicher Kammerdiener in Berlin innehat: Seit zwölf Jahren haben sie einander nicht mehr gesehen, also bittet der Jüngere den Älteren um ein Porträt. Als er den Brief öffnet und das eigens für ihn angefertigte Profil zur Hand nimmt, erfasst ihn Entsetzen: Das Martyrium im Temple hat aus dem noch nicht Vierzigjährigen einen Greis gemacht.

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      Ein neues Leben in Österreich: Jean Baptiste Cléry, der letzte Kammerdiener König Ludwigs XVI.

      Jetzt geht es darum, Clérys »Journal de ce qui s’est passé pendant la captivité de Louis XVI.« zum Druck zu befördern. An interessierten Verlagen wäre kein Mangel, auch die Zahl der Subskribenten kann sich sehen lassen – nur die Wiener Regierung legt sich quer. Also reist Cléry mit seinem Manuskript nach London. Noch im selben Jahr 1798 verlässt die fingerdicke Broschüre mit dem Temple-Turm auf der Titel- und einem Faksimile der Handschrift Ludwigs XVI. auf der Rückseite die Druckerpresse. Übersetzungen in mehrere Sprachen folgen, bald kündigt die Wiener Buchhandlung Schaumburg & Co. auch eine deutsche Fassung an. Einen Gulden beträgt der Ladenpreis. Innerhalb von drei Tagen sind sämtliche 6000 Exemplare der ersten Auflage abgesetzt – ein Bestseller! Noch Jahre danach werden die Buchhändler stöhnen: »In ansehnlichen Büchersammlungen steckten oft bis zu zwanzig Exemplare; kein Antiquar-Katalog, kein Auktionsverzeichnis ohne ›Cléry-Journal‹; kein Mensch in Wien, der es nicht wenigstens gesehen hatte; die Stadt war überschwemmt damit.«

      Auch die Wiener Presse stürzt sich auf das Thema: Sollte das Journal nicht eigentlich erst fünfzig Jahre nach dem Tod seines Autors das Licht der Öffentlichkeit erblicken? Und wohin mag das Manuskript geraten sein? »Ist es in Wien aufbewahrt – und bei wem? Das weiß der Himmel!« Spärlich auch, was man über die Person des Autors zu berichten weiß: »Monsieur Cléry war ein anständiger Mann. Er hatte Geist wie alle französischen Kammerdiener, aber seine Seele war geknickt, und Gram zehrte an seiner Lebenskraft.«

      Mit 44 lässt sich Cléry (der auch eine Reihe von Reisen im Auftrag des späteren Louis XVIII. unternimmt) ein letztes Mal in Paris blicken: Er will seine Kinder wiedersehen. Sohn Karl ist Offizier, die Töchter Benedikta und Hubertine sind Gesellschaftsfräulein in adeligen Häusern. Und Gattin Marie Elisabeth geborene Duverger? Es scheint, wie wenn sie ihren Platz längst an eine Wiener Lebensgefährtin ihres Mannes habe abtreten müssen: an jenes geheimnisumwitterte Fräulein Adelaide Gaudelet, das in Clérys Testament auffallend generös bedacht werden wird … Dass er seinen für drei Monate bemessenen Aufenthalt in Paris vorzeitig abbricht, hat allerdings andere Gründe: Da er nicht bereit ist, der von ihm betriebenen französischen Ausgabe des Journal ein Napoleonfreundliches Nachwort hinzuzufügen, fällt er bei den französischen Behörden in Ungnade und muss neuerlich das Weite suchen.

      In Wien hat er es unterdessen zu Ansehen und Wohlstand gebracht: 40 000 Franken sind in englischen Staatspapieren angelegt, vom Rest erwirbt Cléry zwei Grundstücke auf der Löwelbastei. Als diese günstig weiterveräußert sind, kauft er sich auf der Mölkerbastei an, und hier, in einem ziegelgedeckten einstöckigen Haus mit sieben Wohnräumen und drei Küchen (damalige Anschrift: Kleppersteig 3), bezieht er bis zu seinem frühen Tod Quartier. Als er, eben fünfzig geworden, vier Tage vor seinem Ableben sein Testament abfasst, ist er vom

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