Wien. Dietmar Grieser
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Metternich, nicht eben ein Ausbund an Fleiß, weiß seine Dienstpflichten so effizient wahrzunehmen, dass ihm ausreichend Zeit fürs Privatleben bleibt. Zwischen acht und neun steht er auf, um sich nach dem Frühstück seiner Familie zu widmen, die Erledigung der vormittäglichen Amtsgeschäfte nimmt für gewöhnlich drei Stunden ein. Lässt das Wetter es zu, so steht ein kurzer Ausritt auf dem Programm, am Nachmittag wird die Korrespondenz erledigt und die Spitze der ihm unterstellten Beamtenschaft zum Rapport empfangen. Der wichtigste Termin ist – regelmäßig um 19 Uhr – die Audienz beim Kaiser, die zwischen einer und anderthalb Stunden dauert. Mit kurzer Aktendurchsicht, der Entgegennahme der Berichte der aus allen Teilen des Reiches eintreffenden Kuriere und dem Empfang befreundeter Diplomaten klingt der Tag aus, gegen Mitternacht geht Metternich zu Bett.
1846 wird die Villa Metternich abgerissen, der dreigeschossige klassizistische Neubau, der an ihrer Stelle entsteht, folgt in seiner äußeren Gestalt Vorbildern des römischen Cinquecento (und beherbergt heute, um 1900 abermals erweitert, die italienische Botschaft). Doch kaum hat der inzwischen 75-Jährige die neuen Gemächer bezogen, da muss er sie auch schon wieder verlassen: Die März-Revolution von 1848, die das Haus Habsburg hinwegzufegen droht und nicht zuletzt ihm, dem als Tyrannen und Zensor verhassten »Fürsten Mitternacht«, gilt, zwingt ihn zur Flucht aus Wien, ehe der entfesselte Mob seinen Besitz stürmt und plündert.
Erst als er 1851 aus dem Exil zurückkehrt, ist es Metternich vergönnt, die Annehmlichkeiten seiner neuen Residenz in vollen Zügen zu genießen – und dies umso mehr, als er nun, aller offiziellen Funktionen entkleidet, nur mehr im Stillen wirkt: der hochdekorierte Pensionär, der sich in die Rolle des souveränen Ratgebers zurückzieht.
Wie haben wir uns den greisen Metternich vorzustellen? Einer seiner Besucher gibt darüber zu Protokoll: »Seine hohe, fast hagere Gestalt erschien noch ungebeugt von der Last des Alters, dessen Einflüssen er gleichwohl erliegen mußte. Sein schneeweißes, feines, doch volles Haar, die scharfen Falten im Gesicht, die außerordentliche Schwerhörigkeit beweisen dies zur Genüge. Des Fürsten Antlitz, vom Alter geklärt, zeigte die Spuren jener ehemaligen Schönheit, die Männer wie Frauen einst gleichmäßig bewundert hatten. Noch jetzt war es schön, adelig in allem, wenn auch gespitzt und abgemagert. Die edel gebogene, ziemlich starke Nase; der fein geschlitzte Mund mit roten Lippen; der weiße, zarte, wächserne Teint; zwei helle, große, blaue Augen unter einer stark gewölbten Stirn – nichts war unschön oder unfein geworden, der ganze Kopf war ein Meisterwerk der alternden Natur. Die Kleidung war einfach, schwarz, ein Oberrock. Das Zimmer, in dem der Fürst seine Besuche empfing, war geschmackvoll und traulich. Es war ein Wohnzimmer bester Art, hoch, hell und groß. Schwere Teppiche bedeckten den Boden. An den Wänden entlang standen Schränke, Tafeln und Tische von Nußbaumholz ohne steife Symmetrie, auf ihnen lagen Bücher. Hier stand eine Stutzuhr, dort ein Globus, darunter Kartons und, wie es schien, eine Mineraliensammlung.«
1859, im Todesjahr des vormals Allmächtigen (und wie man gleich sehen wird: nach wie vor Begehrten), kommt es in dessen Palais am Rennweg noch zu einer letzten spektakulären Begegnung, die, von der Enkelin des Hausherrn, Pauline Metternich, heimlich belauscht, in der Folge eine Menge Staub aufwirbeln wird: Kaiser Franz Joseph, von seinen außenpolitischen Einflüsterern in eine ausweglose Lage manövriert, sucht Rat, und er tut es zu ungewöhnlicher Stunde. Notorischer Frühaufsteher, der er ist, fährt er zwischen 5 und 6 Uhr beim Palais Metternich vor, im Morgengrauen kann man die beiden Gestalten, den knapp 86-Jährigen auf den Arm des 28-Jährigen gestützt, über die Parkwege schreiten sehen.
Zwei Monate darauf stirbt Metternich, vom Leibarzt Jäger, seinem langjährigen Vertrauten, bis zum letzten Atemzug umsorgt.
Der Kammerdiener Seiner Majestät
Jean Baptiste Cléry
Wien ist reich an ungewöhnlichen Friedhöfen. Und an ungewöhnlichen Gräbern. Dieses aber ist unter ihnen allen eines der ungewöhnlichsten: Es befindet sich in einer der älteren Abteilungen des Hietzinger Friedhofs, trägt die Nummer III/6 und ist, ansonsten schmucklos, mit einem Stein aus dunkelgrauem Granit ausgestattet, der dem Besucher nicht weiter auffiele, wäre da nicht, schon stark verwittert, die geheimnisvolle Inschrift: »Le fidèle Cléry, dernier serviteur de Louis XVI.«
Des Französischen Unkundige haben in den Sterbematrikeln aus dem Adjektiv »fidèle« den Vornamen »Fidèle« gemacht, doch einen Mann dieses Namens gab und gibt es nicht. Der hier seit dem 27. Mai 1809 unter der Erde ruht, heißt mit vollem Namen Jean Baptiste Cléry. Um seine irrtümlich verschleierte Identität zu klären, genügt es, die 1848 erneuerte Grabinschrift zu entziffern und mit Sorgfalt ins Deutsche zu übersetzen: »Der treue Cléry, letzter Kammerdiener Ludwigs XVI.«
Ludwig XVI. – das ist der mit der Österreicherin Marie Antoinette vermählte Franzosenkönig, der, neun Monate vor dieser, auf dem Schafott des Revolutionstribunals hingerichtet wird. Wie kommt sein Domestik nach Wien?
Ludwig XVI., König von Gottes Gnaden, ist 28 und seit acht Jahren auf Frankreichs Thron, als Jean Baptiste Cléry, aus der Gegend um Versailles stammend und fünf Jahre jünger als Seine Majestät, in dessen Dienste tritt. Als im Sommer 1792 die Tuilerien gestürmt und die königliche Familie im »Temple«, jener düsteren Zwingburg in der Gegend der heutigen Place de la République, festgesetzt wird, begleitet Cléry den König (den die Revolutionäre Louis Capet nennen), die Königin, den kleinen Dauphin, Tochter Marie Thérèse sowie Madame Elisabeth, die Schwester des Königs, auf deren Weg in die Gefangenschaft.
In den den königlichen Arrestanten zugewiesenen Räumlichkeiten im dritten und vierten Stock des im 13. Jahrhundert von den Tempelrittern errichteten und seit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 leer stehenden Gebäudekomplexes außerhalb der Pariser Stadtmauern sorgt der seinem Herrn unterwürfig ergebene Cléry für das leibliche Wohlbefinden des Königs – bis zu dessen letztem Atemzug auf der Guillotine. Zwei Tätigkeiten sind es insbesondere, die dem sensiblen Mann nahegehen: Er soll Seiner Majestät die schon fadenscheinig werdende Kleidung in Ordnung halten, und er muss ihm, da im Temple strengstes Messer- und Gabelverbot besteht, das Essen vorschneiden.
Während dieser fünf Monate wird der inzwischen 33-Jährige – neben den Mitgliedern der königlichen Familie – zum engsten Vertrauten des todgeweihten Monarchen: Sein Bett steht neben dem des Königs. In seinem »Tagebuch über die Vorgänge im Temple während der Gefangenschaft von Louis XVI.«, das ihn später berühmt, ja sogar zu einem reichen Mann machen wird, wird er über den Alltag im Gefängnis aussagen:
»Der König stand gewöhnlich um 6 Uhr morgens auf; er rasierte sich selbst, dann frisierte ich ihn und half ihm beim Ankleiden. Gleich darauf ging er ins Lesezimmer. Weil dieser Raum sehr klein war, blieb der Kommissar im Schlafzimmer – jedoch bei halboffener Tür, um den König ständig beobachten zu können. Seine Majestät betete kniend fünf bis sechs Minuten lang, anschließend las er bis 9 Uhr. Inzwischen räumte ich sein Zimmer auf, deckte den Tisch fürs Frühstück und ging sodann hinunter zur Königin. Ich frisierte den kleinen Prinzen, half der Königin bei der Toilette und begab mich in das Zimmer von Madame Royale und Madame Elisabeth, um diesen den gleichen Dienst zu erweisen. Dieser Augenblick der Toilette bot Gelegenheit, die Königin und die Prinzessinnen von Dingen, die ich erfahren hatte, in Kenntnis zu setzen. Ein Zeichen von mir machte deutlich, daß ich ihnen etwas zu sagen hätte; daraufhin begann eine von ihnen ein Gespräch mit dem Kommissar und lenkte diesen dadurch ab. Um 10 Uhr ging Seine Majestät ins Zimmer der Königin hinunter und verbrachte dort mit seiner Familie den Tag. Er widmete sich der Erziehung seines Sohnes, ließ diesen