Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman

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Der Geliebte der Verlobten - Laura  Lippman Tess Monaghan

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Die gibt es doch gar nicht, nicht einmal hier in Baltimore.«

      »Liest du denn keine Zeitung? Sie haben einen ständigen Blockadeposten vor dem Multiplex in Towson aufgestellt. Das ist sehr praktisch fürs Einkaufen. Sie marschieren eine Stunde lang auf und ab, dann machen sie eine Pause und gehen im Nordstrom shoppen.«

      Kitty lachte, ein überraschend lautes, wunderbares Lachen. Die meisten Monaghans waren etwas mürrisch, auch Tess, und deshalb wirkte Kitty ein bisschen wie ein Wechselbalg. Sie war der glücklichste Mensch, den Tess kannte, mit einer schier unbegrenzten Begeisterungsfähigkeit. Sie wollte nur, dass das Leben greifbar sei, voller Dinge, die man anfassen und festhalten, riechen und schmecken konnte. Weiche Stoffe, neue Bücher, vollmundige Weine, gut geschneiderte Kleider, ausgeprägte Waden. Sie war zwölf Jahre älter als Tess und über zwanzig Zentimeter kleiner, mit flammend roten Locken und den einzigen grünen Augen innerhalb von drei Generationen. Ihr letzter Beau war einer der neuen städtischen »Polizisten zu Rad«, der in den Laden gelockt worden war, nachdem Kitty seine Beine hatte vorüberfliegen sehen. Thaddeus Freudenberg. Er war vierundzwanzig, so groß und knuddelig wie ein Labrador und mit einem nur geringfügig niedrigeren IQ als ein solcher. Tess nahm an, dass er deshalb bei der Fahrradstreife war, weil er die Führerscheinprüfung nicht geschafft hatte.

      Thaddeus war an diesem Morgen nirgends zu sehen. Tess lehnte sich gegen die Theke. »Ich habe ein interessantes Angebot bekommen«, fing sie an und unterrichtete Kitty über Rocks Vorschlag. Sie dachte, ihre Tante würde beeindruckt sein, vor allem, da Tess oft kaum die Miete bezahlen konnte.

      Aber Kitty hatte ihre Zweifel. »Das klingt, als müsstest du dich für Lohn in anderer Leute Privatsachen einmischen. Hast du denn keine moralischen Bedenken?«

      »Moral kann ich mir nicht leisten. Der Sommer war lahm, und ich brauche dringend ein bisschen Bargeld.«

      »Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Sie sah Tess von oben herab an, was ihr nur deshalb gelang, weil sie oben auf der alten Theke saß und Tess daran lehnte. »Aber du magst diese Frau doch eigentlich nicht. Wie kannst du da objektiv sein? Wenn du etwas siehst, worüber du dir unklar bist, könntest du falsche Schlüsse ziehen, nur weil du sie ertappen willst. Und das merkst du dann wahrscheinlich nicht einmal.«

      »Zum Beispiel?«

      »Na ja, zum Beispiel siehst du sie jemanden auf der Straße küssen, und du denkst natürlich, das ist ihr Liebhaber. Es könnte aber auch ihr Bruder sein, oder einfach ein Freund.«

      »Ich glaube, den Unterschied zwischen einem Liebhaber und einem Bruder kann ich schon noch erkennen.«

      »Ich weiß nicht, Tesser. Es ist schon eine Weile her, seit ich außer dir noch jemand anderen die Treppe in den zweiten Stock habe hinaufsteigen hören.« Kitty lächelte und zog sich den rutschenden Kimono wieder über die linke Schulter hoch.

      »Sei bloß nicht so süffisant, nur weil du jeden Abend von deinem Leutnant Strahlemann in den Arm genommen wirst. Manche Leute schlafen eben auch gern allein, verstehst du?«

      »Vielleicht taucht ja Jonathan bald mal wieder auf. Ist schon ’ne Weile her, oder?«

      »Ich habe auf Jonathan seit Beginn der Fastenzeit verzichtet.«

      »Und an Yom Kippur wirst du ihm dann wieder verzeihen. Du hast es schon immer geschafft, alles aus deinen beiden Religionen herauszuholen, Tesser, schon als du noch ein kleines Mädchen warst.«

      Und damit schwang sich Kitty von der Theke, marschierte in den Wohnbereich hinter dem Laden und überließ Tess sich selbst, sodass sie über Jonathan Ross nachdenken konnte. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er ihr fehlen könnte, bis Kitty ihn jetzt erwähnte. Yom Kippur, der Tag der Buße, war nächsten Monat. Und Jonathan hatte für mehr Buße zu tun als sie, für viel mehr.

      Ihre Gedanken wurden zerstreut, als Crow, einer der Angestellten, an der vorderen Eingangstür klopfte.

      »Na, heute nur zwei Stunden zu früh«, sagte Tess, als sie ihm aufmachte, und kam sich dabei etwas gemein vor. Crow, der in Kitty verknallt war, tauchte oft schon um sieben Uhr zu seiner Vormittagsschicht auf und blieb bis spät abends, damit beschäftigt, die Lagerbestände zu computerisieren.

      »Ja, also, ich dachte, ich könnte vielleicht hier frühstücken.« Er hielt eine etwas fettfleckige Tüte Donuts und eine Flasche Orangensaft in die Höhe. Auf dem Rücken trug er einen ziemlich ramponierten Gitarrenkasten. »Ich mag das Morgenlicht hier drin. Es ist für mich so … inspirierend.«

      Tess hatte fast Mitleid mit Crow, denn er war einfach nur der Neueste in einer langen Reihe von Aushilfskräften, die sich in Kitty verliebten. Die Kunststudenten von Marylands Institute of Art schienen besonders anfällig dafür zu sein. Aber ihr Mitleid wurde von einer unbestimmten Verärgerung gedämpft. Sie würde er nie so anschauen, mit seinen feuchten braunen Augen und seinem hübschen Mund. Crow schwang sich auf die Theke, als würde er ganz automatisch von dem Platz angezogen, an dem noch vor ein paar Minuten Kittys Kimono verrutscht war. Ohne sich um sein Frühstück zu kümmern, nahm er seine Gitarre heraus und fing an zu spielen. Etwas Selbstkomponiertes, urteilte Tess, oder die besonders schlechte Interpretation von etwas Bekanntem.

      »Ich schreibe gerade einen Song«, erzählte er ihr.

      »Da bist du nicht der Erste. Aber denk daran – es reimt sich praktisch nichts auf Kitty.«

      »Nicht unbedingt.« Er schlug ein paar Töne an und fing an zu singen. Seine Stimme war zwar dünn, aber charmant und echt. »Ach, vor Kurzem traf ich Kitty / Die schönste Frau der ganzen City / Tapocketa. Tapocketa. Tapocketa / Ich bin schon fast ein Held.«

      »Wenn du etwas findest, was sich auf Monaghan reimt, bin ich wirklich beeindruckt.«

      »Wenn ich etwas finde, dann könnte ich ja auch für dich einen Song schreiben«, sagte Crow und grinste sie an. »Es gibt so viel, was sich auf Tess reimt.«

      »Stress«, sagte sie. »Darauf reimt sich hauptsächlich Stress.«

      Damit überließ sie Crow seinen Donuts und seinen Träumen und ging die Hintertreppe zu ihrem Apartment hinauf. Sie war steil, denn die unteren beiden Stockwerke waren ziemlich hoch, und so war es fast, als müsse man vier Stockwerke erklimmen. Als Kitty das Gebäude renovierte, wollte sie das zweite Stockwerk vermieten, um ihre Hypothek leichter abzahlen zu können. Tess als erste und einzige Mieterin zahlte weitaus weniger, als Kitty auf dem freien Wohnungsmarkt hätte verlangen können.

      Die Wohnung war klein und bestand praktisch nur aus einem einzigen großen Raum, der durch Bücherregale unterteilt war. Der Wohnbereich war gerade groß genug für einen Schreibtisch, einen Lehnsessel und einen kleinen Tisch im Kolonialstil, den sie zum Essen benutzte. Die Küche bestand nur aus einer Kochnische mit einem winzigen Kühlschrank und einem Herd mit zwei Flammen. Man musste sie durchqueren, um ins Schlafzimmer zu gelangen, den größten Bereich. Auch das war schlicht und bot nur Platz für ein massives Doppelbett, einen kleinen Tisch und eine Spiegelkommode.

      Dennoch besaß das Apartment noch etwas ganz Besonderes: eine Terrasse vor dem Schlafzimmer mit einer Leiter aufs Dach. An diesem Morgen stieg Tess sofort hinauf, in der Hoffnung, dass die Aussicht ihren Geist erweitern und klären werde, damit sie sich auf ihren seltsamen neuesten Job konzentrieren konnte.

      Sie bevorzugte den Blick nach Osten, auf die Fabrikschornsteine und das neonrote Emblem auf dem Domino-Sugar-Hochhaus, mit dem Rücken zur Altstadt und zu Baltimores berühmter Uferpromenade. Mit diesem Teil von Baltimore, der als Attraktion für die Touristen neu gestaltet worden war,

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