Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman
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Tess sah noch einmal die Adressen durch, die Rock ihr gegeben hatte. Avas Leben war fein säuberlich unterteilt. Sie wohnte in einer Eigentumswohnanlage auf der einen Seite des Hafens. Sie arbeitete auf der anderen Seite für die angesehene Anwaltskanzlei O’Neal, O’Connor und O’Neill. Sie konnte in weniger als einer Viertelstunde zu Fuß zur Arbeit gehen – falls Ava überhaupt jemals zu Fuß ging.
Das Foto war grob zu einem Oval geschnitten, was die ungeschickte Hand eines Mannes verriet. Wahrscheinlich hatte es in einem Rahmen neben Rocks Bett oder auf seinem Schreibtisch gestanden. Ein Foto von einer Frühlingsregatta, auf dem Ava neben Rock stand. Er trug ein rotes T-Shirt und schwarze kurze Ruderhosen aus Lycra. Sie hatte ein nagelneues T-Shirt mit Marinestreifen an, das aussah, als hätte es mehr gekostet als Tess’ bestes Kleid. Ihre Rechte konnte Rocks Handgelenk nicht einmal ganz umspannen, trotzdem schien sie ihn fest in der Hand zu haben. Ihr Haar schwebte wie eine dunkle Wolke um ihr Gesicht, ein Gesicht, das so vollkommen war, dass man leicht verstehen konnte, warum ihre Eltern es gewagt hatten, sie nach einer Göttin der Erotik zu benennen. Ava kam in ihrem Leben dieser Vorgabe nach.
Tess kannte sich mit schönen Frauen aus. Seit sie lebte, war sie von ihnen umgeben – ihre Tante, ihre Zimmergenossin auf dem College, Whitney, sogar ihre Mutter. Einige waren großzügig und erlaubten einem, sich in ihrem Glanz zu sonnen. Andere waren abweisend und erreichten immer, dass man sich neben ihnen dick und ungeschickt vorkam. Ava gehörte zu Letzteren.
Mit neunundzwanzig hatte Tess Frieden mit ihrem Gesicht und ihrem Körper gemacht. Sie war nicht schön, aber ihr Aussehen tat ihr gute Dienste. Sie hielt alles einfach: lange braune Haare, auf dem Rücken zu einem Zopf geflochten, kein Make-up in ihrem blassen Gesicht oder um ihre hellbraunen Augen, Kleidung, die auf Bequemlichkeit und schnelle Bewegung zugeschnitten war. Eins stand jedenfalls fest: Sie besaß die richtige Garderobe für eine Spionin – ganze Schubladen voll alter, ausgebeulter Sachen in dunklen Farben. Sie verstand es, sich unsichtbar zu machen.
3
Ava wohnte in Eden, genauer gesagt, im Eden’s Landing, einer Wohnanlage mit nicht allzu vielen Stockwerken, errichtet aus rosa Marmor und Glasbausteinen, in der Nähe des National Aquarium. Unhistorisch und unsymmetrisch, war es der Sonnenpyramide in Tenochtitlán nachempfunden und hätte irgendwo zwischen San Diego und Malibu bestimmt ganz gut ausgesehen. Doch hier in der Hafengegend von Baltimore wirkte das Gebäude, als würde es vor seinen Nachbarn zurückschaudern und seine Terrassen ganz eng an sich ziehen. Eden’s Landing schien die Vorstellung, hier in Baltimore gelandet zu sein, als Horror zu empfinden. Was Tess betraf, so beruhte dieser Horror auf Gegenseitigkeit.
Sie hatte an einer Bushaltestelle in der Pratt Street Position bezogen, weil sie dachte, von dort aus könne sie Ava in ihrem Mazda Miata am besten aus der Tiefgarage kommen sehen. Nach Rocks Aufzeichnungen müsste sie um 7:15 Uhr zur Arbeit gehen. Um genau 7:20 Uhr erschien Ava zu Fuß. Gleich die erste Überraschung des Tages, dachte Tess. Tatsächlich erleichterte das die Sache für sie, da sie ihren Toyota auf einem Parkplatz auf der anderen Seite der President Street abgestellt und die Verfolgung mit dem Fahrrad geplant hatte, weil das in der Innenstadt viel praktischer war. Sie verstaute ihr Fahrrad im Kofferraum und eilte zurück in die Pratt Street.
Zum Glück ging Ava die Pratt Street ganz langsam hinunter. Die Fahrbahn war zwar verstopft, aber zu Fuß ging um diese frühe Stunde noch kaum jemand. Tess blieb kurz stehen, dann ging auch sie die Pratt Street entlang und versuchte, ihren Schritt der gemächlicheren Gangart von Ava anzupassen. Da ihr Haar von einer schnellen Dusche im Ruderklub noch etwas feucht war, kam sie sich auf dem fast leeren Gehsteig äußerst auffällig vor.
Ava war nicht der Typ, der zum figurbetonten kleinen Kostüm Sportschuhe und weiße Söckchen getragen hätte. Sie schlenderte in Wildlederpumps dahin, mit etwa acht Zentimeter hohen Absätzen und Riemchen um die Knöchel, wobei sie geradeaus vor sich hin schaute, ohne auf den klaren Morgen oder den atemberaubenden Blick auf den Hafen zur Linken oder den dunklen Schatten der USS Konstellation zu achten. Tess hätte ihr auf einem Dreirad folgen und dabei mit einem Fahrradglöckchen bimmeln können, und Ava hätte es nicht bemerkt. Das Einzige, was sie sah, waren teure Autos und gut angezogene Männer. Wenn beides zusammentraf, drehte sie sogar den Kopf und gestattete Tess einen Blick auf ein wohlbekanntes Profil. Die Hälfte der Frauen in Baltimore hatte genau dieses Profil, dank eines bestimmten Schönheitschirurgen.
Trotz ihrer vollkommenen Nase sah Ava für Tess nicht wie eine echte Rechtsanwältin aus, sondern eher wie das Bild, das ein Modemagazin von einer Anwältin hatte – was ein großer Unterschied war. Ihr glänzendes schwarzes Haar trug sie gelockt und offen, ohne Haarband oder etwa Schildpattspangen. Ihr perlgrauer Rock war kurz und saß gut, ihre karminrote Bluse war aus Seide und kurz geschnitten. Die Pumps, die farblich zur Bluse passten, hätten sich vier Straßen weiter nördlich bestimmt wie zu Hause gefühlt, auf diesem Straßenabschnitt voller Nacktbars und Pornoläden, der als »der Block« bekannt war. Und Avas Aktentasche aus glänzendem schwarzen Leder, das weicher aussah als Tess’ Kopfkissen, schwang ihr viel zu locker in der Hand, als dass mehr darin hätte sein können als Wimperntusche und Lippenstift.
Sehr verdächtig, sagte sich Tess. Als junge Mitarbeiterin bei O’Neal, O’Connor und O’Neill müsste Ava doch mit Arbeit überladen sein, und zwar mit Arbeit, die wenig Ruhm, dafür aber viel Papierkrieg mit sich brachte. Aber wozu auch Ruhm, wenn man mit 80000 Dollar pro Jahr anfing? Jeder wäre froh um so ’ne Arbeit, summte Tess, als Ava im Lambrecht Building verschwand, dem verspiegelten Wolkenkratzer, der der Sitz des Tri Os war. Die verspiegelte Außenhaut ließ ihr Eintreten ins Gebäude wie einen Zaubertrick erscheinen: Jetzt sah man sie noch, dann nicht mehr. Tess wartete ein paar Sekunden und ging dann um das Gebäude herum, wobei sie den Hintereingang entdeckte, der auf eine kleine Seitenstraße führte. Außerdem gab es noch ein kleines Café mit einem separaten Eingang. Sie fand keinen Punkt, von dem aus sie alle Eingänge klar im Blick behalten konnte. Und wenn Ava das Gebäude mit jemandem im Auto über die Tiefgarage auf der Ostseite verließ, würde Tess überhaupt nichts davon mitkriegen.
Wie ließ sich das ändern? Tess hatte noch nie jemanden beschattet. So eine Reporterin war sie nicht gewesen. Da sie über ganz verschiedene Themen schrieb, war eher sie diejenige gewesen, die von den Leuten verfolgt wurde, so gierig waren die immer auf Publicity. Sie hatte über Straßenprediger geschrieben, über frühreife Jugendliche, die ihren Uniabschluss viel früher machten als üblich, sogar über Lyndon B. Johnsons Facharzt für Fußkrankheiten, der sich jetzt in Arbutus zur Ruhe gesetzt hatte. (»Füße, die viel leisten müssen, die aber zarter aussehen, als man denken sollte«, hatte der Arzt zu ihr gesagt.)
Sie kehrte zurück zur Vorderseite und suchte sich eine Bank, von der aus sie einen ungehinderten Blick auf den Vordereingang und die Kreuzung zwischen Pratt und Howard Street hatte. Eine Obdachlose beäugte sie misstrauisch.
»Kennen Sie die Kraft des Geistes?«, wurde Tess von der zahnlosen Frau gefragt.
»Ja«, antwortete Tess, zog ein abgewetztes Exemplar von Love’s Lonely Counterfeit aus ihrem ramponierten Rucksack hervor und kramte nach ihrem Walkman.
Die Frau rutschte ein Stückchen näher. Die Temperatur betrug bereits über 25° C, und obwohl sich der Morgennebel nur langsam auflöste, sah Tess voraus, dass es wieder ein schwüler Tag werden würde. Trotzdem trug die Frau eine graue Strickjacke über einem karierten Baumwollkleid, dicke Wollsocken und schwere Wanderschuhe. Sie roch nach Zigaretten, Schweiß und billigem Fusel. Doch dahinter nahm Tess ganz vage noch einen anderen, vertrauten Geruch wahr. Das Parfum Lily of the Valley. Ihre Großmutter, Momma Weinstein, benutzte es.
»Mache ich Ihnen Angst?«, fragte die alte Frau hoffnungsvoll.