Von Menschen, Märchen & Moguln. Michael Schottenberg
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In einem kleinen Park hockt ein Mann breitbeinig im Gras und massiert die Schenkel eines Kampfhahnes. Vielleicht bereitet er ihn auch nur auf sein Morgengebet vor. »Welcome to Mumbai!«, krächzt der Alte. Oder der Hahn? Ich wackle mit dem Kopf, ahne, von wem ich wenig später geweckt werde, steige ein paar Treppen hinauf, betrete einen muffigen Raum und öffne das Fenster. Der Hahn spaziert über den Kiesweg und bleibt mitten auf einem kleinen Rasenstück stehen. Majestätisch bläht er den Hals zum Kropf, reckt den Schnabel in den Morgensmog, holt tief Luft und tut einen Schrei, der so laut ist, als gälte es, ganz Maharashtra aus dem Tiefschlaf zu holen. Außer einen, der lässt sich genau in diesem Augenblick auf eine steinharte Matratze fallen. Welcome to Mumbai!
Eine Landung wie im Märchen
Mumbai, 16. Februar
Der Gockel lässt nicht locker. Nach drei traumlosen Stunden wache ich auf. Über mir dreht sich ein Monstrum von Ventilator. Durch die Jalousien fallen grelle Sonnenstrahlen und werfen Linien durch den Raum, als wären sie Teil eines Bildes der englischen Op-Art-Künstlerin Bridget Riley. Auf dem Fenstersims hockt eine Krähe und starrt mit bösen Augen auf den großen weißen Mann, der sich unter falschem Namen in ihr Reich geschmuggelt hat. Scharfe Federn kratzen gegen das Scherengitter. Eine zweite Krähe linst herein. Was sehen sie? Wer hat bis gestern hier gewohnt? Enssinger? Wie begreifen Vögel die Welt? Die letzte Spielzeit meines Theaters habe ich mit Aristophanes’ gleichnamigem Stück eröffnet. Die Tiere errichten ihr Wolkenkuckucksheim. Was mit der »besten aller Welten« beginnt, endet in der schlechtesten – dem Faschismus. Mein geliebter Kumpel, der theatralische Querkopf Schulte-Michels hat inszeniert. Indem ich das Theater verließ, habe ich auch viele meiner Wegbegleiter verloren. Schumi war einer der Liebenswertesten.
Um ins Badezimmer zu kommen, muss ein Vorhängeschloss geöffnet werden. Das Hotel gleicht einer geschlossenen Anstalt. Mit abgekochtem Wasser putze ich mir die Zähne und stelle mich unter das eiskalte Rinnsal einer Dusche. Die Seife fühlt sich nach Klostein an. Vielleicht ist sie auch einer. Der allgegenwärtige Smog verfolgt mich bis hierher: Im Bad stinkt’s nach Diesel. Kein Wunder, das Hotel heißt Bentley’s.
Am Colaba Causeway liegt ein geschichtsträchtiger Ort. Das Leopold Café ist einer der Hauptschauplätze des Romans Shantaram, der bizarren Lebensgeschichte eines australischen Drogendealers, der in einem der unzähligen Slums Mumbais untertaucht. Das Leopold ist auch noch aus einem anderen Grund in die Schlagzeilen geraten. Vor Kurzem bekamen hier zehn Menschen ein paar Kugeln in den Kopf. Vier Tage später sperrte der Besitzer seinen Laden wieder auf, in der berechtigten Hoffnung, dass Verbrecher ihre Handschrift nie zweimal am selben Ort hinterlassen. Unzählige Löcher an den Wänden erzählen eine grausige Geschichte. Ich bestelle Toast, gefüllt mit einer undefinierbaren Pampe, und überlasse ihn dem unentwegt mit dem Kopf wackelnden Kellner. Täusche ich mich oder sehe ich in seiner Backe ein Einschussloch? Ich zahle und verlasse den Ort blutiger Facts and Fakes.
Das Gateway of India liegt in unmittelbarer Nähe zum Taj Mahal Palace Hotel und ist das Wahrzeichen der Stadt. Ein Willkommensgruß für all jene, die sich der Stadt vom Wasser her nähern. Es sollte Jahrhunderte dauern, bis sie alle wieder gingen. Ein klein gewachsener Mann, in der Rechten einen Wanderstab, auf der Nase eine Nickelbrille und an den Füßen ein Paar Sandalen, brachte es zuwege. Mahatma Gandhi war Rechtsanwalt. Am 30. Jänner 1948 stellte sich ihm ein fanatischer Hindu in den Weg. Der kleine, große Mann begab sich zum Gebet, das Hindus gleichermaßen galt wie Moslems. »Du bist zu spät«, sagte der Fremde. Unmittelbar darauf trafen Gandhi drei Kugeln, zwei in den Bauch, eine in die Brust. Die Kugeln töteten nicht nur die Ikone des gewaltfreien Widerstandes, sie galten der Vision, Religionen zu einen. Gandhi hatte einen gewaltfreien Kampf gewonnen, die Macht der Engländer wurde gebrochen. Das Todesurteil aber hatte eine andere Ursache. Sein Aufruf zur Versöhnung der Religionen führte letztlich zur Gründung zweier neuer, unabhängiger Staaten: Westpakistan, das heutige Pakistan, und Ostpakistan, Bangladesch. Der Mord war der Startschuss eines bis heute schwelenden Konfliktes. Auch das Gateway wurde Ziel eines blutigen muslimischen Terrorangriffes. Heute ist das Gebäude entsprechend geschützt, man muss einen Kordon von Polizeischranken überwinden, um es zu besichtigen. Wenn man drinnen ist, ist man schon wieder draußen. Mehr als ein Tor gibt’s nicht zu sehen.
Im Taj Mahal Palace möchte ich ein Gläschen auf die Freiheit des indischen Staates heben. Die Revolutionsfeier muss allerdings verschoben werden. Weshalb? Ich finde den Hoteleingang nicht. Kein Witz. Keine Türe.
Ich spaziere durch ein Viertel, in dem ein monumentales Gebäude neben dem anderen steht: Kala Ghoda. Das größte Museum der Stadt befindet sich in einem traumhaft schönen Park gleich am Beginn der Mahatma Gandhi Road. Hier lagern die meisten ethnischen Kunstschätze Indiens. Ein anderes Haus, schräg gegenüber, zieht mich noch mehr an: Der sephardische Jude David Sassoon hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Stadt ein »Haus der Weisheit« geschenkt. Der Mann konnte sich’s leisten, sein Vermögen machte er mit Opium. Nicht jeder Dealer aber spendiert gleich eine Bibliothek. Hundert Jahre später existiert das Legat immer noch. Über dem Eingang prangt ein Relief des Stifters: Mit Rauschebart und Turban grüßt der Jude seine Schüler.
Der Eintritt in die Bücherwelt ist mystisch und – stockdunkel. Ein Typ mit Bart und Turban steht vor mir. Er ist aus Stein. Die Hände hat er zum Himmel gerichtet.
»Yes, please?«
Ich sehe den Golem an. Spricht er zu mir? Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich erschrecke.
»In the name of Mr. Sassoon, I welcome you!«
Ein Mann aus Fleisch und Blut wendet sich einem Berg von Schlüsseln zu und legt sie der Größe nach geordnet auf den Tisch. Ich sage, dass ich es wunderbar finde, der Welt Buchstaben zu hinterlassen, verneige mich vor dem versteinerten Mr. Sassoon, nicke seinem menschlichen Ebenbild zu und betrete den Garten des Hauses. Vögel hopsen durch das Gras. Wenn sie die trockenen, am Boden liegenden Blätter der großen Banyan-Bäume berühren, klackt es, als legten hinten in der Laube der Opiumhändler und seine Freunde Dominosteine auf die Tischplatte. Auf einer Bank strecke ich mich aus und schließe die Augen. Inmitten der unüberschaubar großen Stadt habe ich einen Platz der Ruhe gefunden. Wissen und Bücher machen es möglich. Lange liege ich da, im Schatten der Vergangenheit, so lange, bis es mich zu frösteln beginnt.
Gleich nebenan steht das Esplanade Mansion, vormals erstes Hotel der Stadt. Die Straße davor wurde nach ihm benannt. Ein Autobus kracht in ein Taxi. Der Fahrer springt aus dem Wagen, trommelt gegen die Scheibe des Buslenkers, tritt gegen die verbeulte Türe und verpasst dem Monstrum weitere Dellen. Ungerührt lässt der Chauffeur den Angriff auf sein Fahrzeug geschehen, legt unter Seufzen der schweren Maschine eine nachtschwarze Dieselwolke über den Tatort und löst sich vor den Augen der staunenden Menge in nichts auf. Resigniert steigt auch der Taxilenker in seinen ramponierten Wagen und entfernt sich, seiner Wut geschuldet, gegen die Einbahn fahrend. Schon bald ward auch er, gleich einem Zaubertrick des berühmten Magiers Copperfield, nicht mehr gesehen.
Die Gebrüder Lumière schrieben im Esplanade Stadtgeschichte: 1896 führten sie zum ersten Mal auf indischem Boden ein kinematografisches Experiment vor, das die High Society Mumbais entzückte. Die Sensation strahlt bis heute nach: Die hiesige Filmindustrie zählt zu den umsatzstärksten Wirtschaftszweigen des Landes. Längst ist das Esplanade eine verfallene Ruine. Betritt man das Gebäude, wähnt man sich in einem Bollywood-Action-Movie. Vor Kurzem krachte ein Balkon auf den Gehsteig und begrub zwei Menschen unter sich. Eine Unmenge