Von Menschen, Märchen & Moguln. Michael Schottenberg
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Ich spaziere den Oval Maidan entlang, eine riesige Grünfläche, die für Kricket genutzt wird, vorbei an den beiden viktorianischen Trutzburgen Universität und High Court. Zwei Bahnhöfe ziehen mich an: die Churchgate Railway Station und der regierende Weltmeister in dieser Disziplin, der Chhatrapati Shivaji Terminus, eine Merkwürdigkeit, die weltweit ihresgleichen sucht. Es dämmert gerade und der Blick, der sich mir bietet, ist unbeschreiblich: eine indo-sarazenische Mischung aus Grottenschloss und Geisterberg. Von Weitem grüßt das Wiener Rathaus. Nie zuvor habe ich einen ähnlich bombastischen Kitsch gesehen. Blau-rot glänzt die Fassade, die Fenster grün, die Türme gelb, und die Mauervorsprünge, Nischen und Erker, wovon es jede Menge gibt, sind mit Glühlampen bestückt. Man traut seinen Augen nicht: Hogwarts, von Mumbais größenwahnsinnigsten Filmarchitekten nachgebaut und ausgeleuchtet.
Ich betrete die bombastische Kassenhalle, gleich dahinter erstreckt sich ein Labyrinth aus Wandelgängen, Couloirs und Foyers, die für die Krönungsfeierlichkeiten des englischen Königshauses herhalten könnten. Endlos viele Gleise enden hier, im größten Kopfbahnhof der morgenländischen Welt. Im Minutentakt kommen Züge an. Menschen hängen an den Türen wie doldenartige Wucherungen. Der erste Waggon eines jeden Zuges ist ausschließlich Frauen vorbehalten. An der Fahrerkabine, groß wie ein geräumiges Kontor, prangt das Schild »Motor Man«. Damit ist alles gesagt. Die Branche ist sauber gegendert, zumindest hier. In unzähligen Filmen spielte der Chhatrapati die Hauptrolle. Neben Millionen Reisenden beherbergt der Bahnhof auch Heerscharen von Bettlern und Straßenkindern, die hier auf den Perrons ihr Zuhause haben. Vorsicht ist geboten: Über sie zu stolpern, heißt in die Welt der Unberührbaren einzutauchen.
Direkt hinter dem Monstrum hat ein Nachtmarkt seine Pforten geöffnet. Hier und jetzt erfüllt sich erstmals auf dieser Reise meine Leidenschaft für Street Food: Ein zu allem Entschlossener schaufelt Unmengen von Reis auf einen Blechteller, dazu Dhal, Curry und Mixed Pickles, das Ganze wird mit Schichten von heißen, frisch zubereiteten Fladenbroten versehen, nebst einem Vada Pav, einer Art vegetarischen Burgers bestehend aus frittierter Kartoffelmasse in einem weichen Brötchen (Pav). Das fertige Kunstwerk drückt er mir, garniert mit höllenscharfem Chutney und grünen Chilis, in die Hand. Dafür will er dreißig Rupien, das sind umgerechnet vierzig Cent. Nie zuvor habe ich eine köstlichere Mahlzeit genossen. Ich schlinge, schaufle, gaffe, werde begafft und schlinge und schaufle weiter, vergesse das Chaos rund um mich und bin mittendrin und lebe und bin glücklich – und bin angekommen.
Das Sahnehäubchen des Tages bildet das Regal, eines der ältesten Kinos der Stadt. Wer etwas auf sich hält, muss dort hinein. Um stramme zweihundertfünfzig Rupien leiste ich mir im Dress Circle den »ersten« Platz. Ein sündteures Vergnügen, aber es ist jeden Cent wert. Das Kino ist gesteckt voll. Es wird gegessen und getrunken, die Stimmung ist bestens. Plötzlich schnellen alle wie auf ein geheimes Zeichen von ihren Plätzen auf: Über die riesige Leinwand flattert die indische Fahne. Mit einem Mal herrscht Ruhe im Saal. Ehrfurchtsvoll, die Hand am Herzen, lauschen wir der Hymne. Danach geht’s los: Party! Der Streifen heißt Aiyaary und spielt in indischen Geheimdienstkreisen. Die Sprache ist Hindi, ich verstehe Bahnhof, kein Wunder bei meinem heutigen Programm. Egal, ich bin der Zuschauer wegen hier und das entschädigt das Fehlen jeglichen Fachwissens. Mein erster Tag in Indien geht zu Ende, wie er begonnen hat: in einem Bollywood-Märchen.
Die Kuhherberge von Panjrapole
Mumbai, 17. Februar
Ich sitze im Study Center des Municipal Children’s Park, so wie viele rund um mich. Der Platz der Stille inmitten dieser wirbeligen Metropole ist der Familie Shekhar zu verdanken, in zweiter Generation tätig bei der Stadtverwaltung Mumbais. Hier wird gelesen, geträumt und geschrieben. Das ist was für mich. Dahinter befindet sich ein riesiger Kinderspielplatz.
Was immer ich in Südostasien gesehen habe, es wird in den Schatten gestellt von dem, was ich in dieser Stadt erlebe. Mumbai ist unglaublich, in jeder Beziehung: Grell und laut und bunt und voller Leben. Mumbai ist der Wahnsinn! Hier nimmt niemand auf niemanden Rücksicht, am wenigsten auf sich selbst. Schon die Straßenseite zu wechseln, ist Abenteuer pur. Kreuz und quer strömen die Kohorten. Die Mutigen lassen sich treiben, inmitten von Lastenträgern, Kindern und Bettlern. Sie schieben, schubsen, stoßen, drängeln. Man stolpert vorbei an Krüppeln, Heiligen, Unberührbaren. Man plumpst in Löcher, gerät an Kühe, Ziegen und Hunde, verheddert und verkeilt sich in Massen von Menschen, von denen jeder, sein Ziel vor Augen, Gleiches tut. Handkarren, beladen mit meterlangen Stangen, Rohren, Eisenteilen sind ebenso unterwegs wie Fahrräder, Busse, Taxis, Motorräder. Die Polizisten, dem Ganzen nicht gewachsen, pfeifen und tröten, was das Zeug hält. Sie fuchteln mit den Armen, rollen die Augen, wackeln mit den Köpfen und schreien sich die Kehlen heiser, es nützt nichts. Der Moloch gehorcht eigenen Gesetzen. Der Starke gewinnt, der Schwache gibt nach. Einen Tag in Mumbai herumzumarschieren heißt, sich durchs Fegefeuer zu kämpfen. Es gibt nichts Aufregenderes, als auf eigene Faust in Maharashtras Hauptstadt unterwegs zu sein. Überlebenskampf pur.
Den haben die Kollegen meines heutigen Zieles bereits hinter sich. Ich marschiere die Maharshi Karve Road entlang, in Richtung Sonapur, einer Art Open-Air-Krematorium. Gegründet und gespendet wurde die gespenstische Location zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Mr. Jagannath Shankarseth, Millionär und Menschenfreund, der seinen Landsleuten die ewige Ruhe geschenkt hat. In diesem »Vorraum des Schlafes« wird in Schichten gearbeitet, die Öfen brennen Tag und Nacht. Über den Holzstößen sind riesige Abzugshauben angebracht, wie sie in Großküchen hängen. Nur dass das Grillgut ungleich delikater ist. Dicke, runde Scheite, gut eineinhalb Meter lang, darüber das schmälere Zündholz. Die Toten sind in Tücher gehüllt, um den Hals tragen sie Blumenschmuck. Hindus müssen innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach ihrem Tod verbrannt werden – und das öffentlich. Die Stimmung der Trauergemeinde ist alles andere als gedrückt. In der Regel bedeutet der Eintritt in ein neues Leben eine zweite Chance. Und die darf ruhig auch gefeiert werden, besonders wenn die Vergangenheit nur mäßig komisch war.
Mehr als eine Steinbüste ist von Mr. Shankarseth nicht übrig, die aber ist gut erhalten. Allerdings dreht er seinen Schützlingen den Rücken zu. Hat er schon zu viel gesehen? Dabei hätte er seine Freude daran, die Branche brummt. Eine Lagerhalle ist bis unters Dach mit den unterschiedlichsten Hölzern befüllt. Und das Material ist alles andere als billig. Weitaus günstiger für die Hinterbliebenen ist das nahe gelegene Electric Crematorium. Hier wird die Sache umweltfreundlicher erledigt, allerdings auch weniger romantisch.
Die konventionelle Verbrennungszeremonie in Mumbai geht so vor sich: Ein junger Mann umkreist den Scheiterhaufen. Auf der Schulter trägt er einen Tonkrug, aus dem Wasser tropft. Bei der zweiten Umrundung wird das Leck größer geschlagen, bei der dritten noch etwas mehr. Danach landet der Krug am Boden, er zerbricht. Das irdische Leben hat ein Ende. Jetzt beginnt die Einäscherung. Am nächsten Tag kommen die Angehörigen und holen die Asche ab. Sie wird in ein Gefäß gefüllt, auf einen Fluss gesetzt und die symbolische Reise ins nächste Leben beginnt.
Einige Männer hocken in dem Bereich, der den Trauernden vorbehalten ist. Ich nicke und nehme Platz. Einer der Herren blickt mich feindselig an. Seine Augen laufen Gefahr, aus den Höhlen zu treten. »That’s life«, brummt er, angesichts des Todes. Die anderen brüllen vor Lachen, und ich verstehe auf sehr einfache Weise etwas mehr vom Leben.
Zurück aus dem Reich der Toten nähere ich mich dem Mumbadevi Tempel. Er ist jener Göttin geweiht, die der Stadt ihren Namen gibt. Ihr will ich meine Reverenz erweisen, ich denke, das gehört sich so. Im Innenhof stehen ihre unmittelbar Untergebenen, die heiligen Majestäten – gut genährte Kühe. Gläubige versorgen sie mit frischem Gras. Die fetten Damen blinzeln mich träge an. Vorsichtshalber murmle ich einer von ihnen ein nettes Wort ins Ohr, man weiß ja nie. Draußen kann ich mich kaum der Liebesbezeugungen eines Krätzigen