Von Menschen, Märchen & Moguln. Michael Schottenberg

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Von Menschen, Märchen & Moguln - Michael Schottenberg

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Kombination aus Zahlen, Buchstaben und Zeichen gekrakelt. Die empathischen Liebesboten sind sich ihrer Verantwortung wohl bewusst. Auf Handkarren, Fahrrädern oder zu Fuß transportieren sie täglich bis zu zweihunderttausend solcher Henkelmänner kreuz und quer durch die Riesenstadt. Die Effizienz ihrer Organisation verblüfft. Angeblich gibt es eine Statistik, der zufolge nur alle vierzig Tage eine der delikaten Lunchboxen verloren geht, also eine von acht Millionen. Das Räderwerk ist so ausgereift, dass sich Logistikunternehmen wie FedEx, UPS oder DHL auf Studienfahrt begeben, um vor Ort zu lernen.

      Im Film Lunchbox passiert das Undenkbare: Eine der Boxen landet an falscher Stelle und es kommt, wie es kommen muss: Der Gaumengenuss stürzt den Ahnungslosen in einen Sturm der Gefühle, dem er sich nicht zu entziehen weiß. Das Missverständnis klärt sich nicht auf, die Unschuldigen werden einander nie erreichen. Ihre Liebe aber währt ewig.

      Ich wollte den Weg der täglichen Liebesbotschaft nachvollziehen, tatsächlich war dies einer der Gründe, weshalb ich Mumbai als Ausgangspunkt meiner Reise wählte. Ich wollte Zaungast subkontinentaler Gefühlswelten werden.

      »They will come at half past eleven, perhaps five minutes earlier!« Der Busfahrer der Linie 981 weiß Bescheid. Seit einer halben Stunde stehe ich an der Ostflanke der Churchgate Station auf Posten, das Spektakel der mittäglichen Reindl-Parade darf nicht versäumt werden. Punkt elf Uhr fünfundzwanzig ist es so weit, der erste Dabbawala erscheint. Innerhalb weniger Minuten sind sie alle da: Wie auf ein geheimes Zeichen hin treffen die sagenumwobenen Kuriere ein. Alle tragen kecke Hütchen, weithin sichtbares Zeichen ihrer Zunft. Und auch sonst sind sie schmuck gekleidet: weiße Hemden, gebügelte Hosen. Die Dabbas mögen nicht hoch oben stehen in der gesellschaftlichen Hierarchie, Standesbewusstsein aber haben sie.

      Dosen knallen auf den Asphalt und werden nach Wohngebieten sortiert. Immer mehr Boten treffen ein. Ein Blechgebirge faltet sich auf, die Passanten müssen sich ihren Weg zwischen den Büchsen bahnen. Die Töpfchen, in denen bestimmt die köstlichsten Currys wabbeln, werden auf schmale Bretter geschlichtet oder auf Handkarren verladen, einige landen auch direkt auf dem Kopf der Träger. Das oberste Reindl-Geschoß bleibt den Chapatis (Brot) vorbehalten, darunter befindet sich das Palak Paneer (Spinat mit indischem Käse), dann das Chana Masala (Kichererbsencurry) und als Grundierung quasi und zuunterst der Safranreis. An dessen Stelle kommt auch das würzige Kartoffelgericht Batata Bhaji infrage, dazu Chicken Tikka Masala (Hühnchen in Joghurt und Tomate) sowie das allgegenwärtige Spaltlinsengericht Dhal, und, als krönender Abschluss, Dahi, eine Art selbst gemachtes Joghurt. Denkbar wäre auch: Patal Bhaji (geschmorter Spinat mit Nüssen), Puri (Fladenbrot, aufgebläht wie ein Kugelfisch), Alu Gobhi (Kartoffel und Karfiol in Kurkuma), Tawa Pulao (Masala-Reis mit Gemüse) oder ein überirdisches Masala Pav (in Butter geschwenktes Brötchen mit Gemüsefüllung). Das alles habe ich im Kino gelernt und auf meinem Herd nachvollzogen.

      Eine Abordnung verlässt den Bahnhof in Richtung Jamshedji Tata Road. Schon die nächste Kreuzung ist eine erste, ernst zu nehmende Hürde. Sechs breite Boulevards treffen sternförmig aufeinander. Die Straßen gesund zu überqueren, verlangt höheren Beistand. Den haben die Herren: Sie sind dem Schutzheiligen des weltlichen Genusses, dem Gott Kamadeva, unterstellt. Um ein bisschen was davon abzukriegen, schließe ich mich einer der Karawanen an. Den (h)eiligen Essenszustellern und ihrem unauffälligen Trabanten gelten keine irdischen Verkehrsregeln, für sie ist das Gesetz der Liebenden zuständig, in dessen Auftrag sie unterwegs sind. Sobald die Gottgewollten die Straße betreten, bremsen sogar LKW-Trucks jäh ab. Jeder weiß um den delikaten Inhalt der Dosen. Die weiß gewandete Schlange, mit mir als Nachhut, erreicht die gegenüberliegende Straßenseite, an der das symbolträchtige Eros Cinema liegt, ein Kino, das zu Kolonialzeiten mit seiner kühnen Art-déco-Architektur für Furore sorgte. Ganz in der Nähe gibt es ein schattiges Plätzchen, an dem letztes Justieren stattfindet. Die Büchsen werden einer tieferen Systematik unterzogen. Diesmal wird pro Häuserblock geschlichtet. Einer der Walas, der Grandseigneur der Kolonne, ist mir bei seiner Ankunft im Bahnhof bereits aufgefallen, ein Aristokrat in Aussehen und Tenue.

      Kurz vor zwölf. Gewiss wartet bereits ein hagerer Jüngling, Typus Staatsdiener, auf die heutige Sinnesattacke. Schüchtern sollte er schon sein, darauf legt meine Phantasie Wert, seine Anbetungswürdige gibt sich nicht für Rabauken her. Sendet er ihr ein hastig hingekritzeltes Poem zurück, das er in einer mit Chapati-Resten blank getunkten Etage des Blechkerls wie zufällig deponiert? Die Göttin irdischen Genusses am Beginn der Nahrungskette sehnt wohl schon den Augenblick herbei, da sich der errötende junge Mann dem verführerischen Duft ihrer Speisen hingibt.

      In Windeseile ordnen und beschriften die Boten das wertvolle Gut erneut, dann zerstreuen sich die Delegationen in Einzelgänger und Gruppenläufer. Schwer beladen nehmen sie mit ihren Fahrrädern die letzte Etappe in Angriff. Manche wuchten sich das lange Tragegestell auf den Kopf, andere stoßen Handkarren vor sich her, auf denen die Dosenungetüme verzurrt sind. Ich trachte danach, meinen »Anführer« nicht aus den Augen zu verlieren, was sich leichter anhört, als es ist, bewegt sich die Gruppe doch überaus ambitioniert durch den mittäglichen Verkehr.

      Zehn nach zwölf. Die Herren verfallen in Trab, immer mehr von ihnen verschwinden in den Seitengassen. Mein Team läuft die Jamshedji Tata Road entlang, so zügig, dass ich Mühe habe, Schritt zu halten. Wir pflügen durch Mumbai, in Richtung Nariman Point. Autos, Busse, Motorräder, Ochsenkarren, Fußgänger, Kühe – alles steht still und nimmt Rücksicht auf den seltsamen Zug: ein Handkarren, darauf Trauben verschnürter Blechbüchsen, geschoben von zwei weiß gekleideten Herren, einer davon reichlich nervös, gefolgt von einem schweißüberströmten Traveller mit gezückter Kamera. Die Träger werden immer schneller. Sie wissen, es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Der in seinem stickigen Büro Schmachtende benötigt Seelenfutter. Die Walas erhöhen das Tempo, ich immer noch hinterdrein. Längst habe ich meine Tarnung abgelegt, weswegen mir die Kollegen bei jedem Überqueren der Straße bereits freundschaftlich zuwinken. Das Lauftempo wird erneut gesteigert. Tun sie es, um mich abzuschütteln?

      Halb eins. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Eine halbe Stunde schon hasten wir durch die Mittagshitze. Die wilde Jagd verlangt mir alles ab. Endspurt. Wir sind in der Madame Cama Road, nach vorne hin zum Marine Drive wird sie zur Sackgasse. Endlich halten die beiden Läufer. Zwölf Uhr achtunddreißig. Wir sind da. Die ersten Henkelmänner verschwinden in den Bürohäusern. Der Grandseigneur-Dabbawala entwirrt die Dosen und ordnet sie ein allerletztes Mal, indem er sie der Reihe nach auf das Trottoir stellt. Dann pflückt er eine Büchse, wie mir scheint, mit besonderer Sorgfalt heraus, wirft mir einen verschmitzten Blick zu und verschwindet im Hausflur. Der Moment ist gekommen. Bald schon vereint die beiden jungen Liebenden: Duft (vorerst), Vollkommenheit (später) und Erfüllung (endlich). Der Übermittler all dieser Genüsse ist abgetaucht in der dunklen Kühle des Hauses und hastet hinauf in den ersten Stock. Der Mitläufer bleibt außen vor. Heute durfte ich teilhaben am Kreislauf allzu menschlicher Sehnsucht.

      Mein Blick fällt auf ein Messingschild: »Thai Massage, First Floor«. Der schüchterne junge Kerl ist mitnichten schüchtern, noch weniger Mann. Meine postpubertäre Liebesphantasie stürzt in sich zusammen. In Wahrheit hat eine Gruppe Professioneller von einer Restaurantkette Fast Food gegen den hastigen Hunger geordert. Gewiss machen sich flinke Finger sogleich wieder an ihre Arbeit. Oh, mein Gott. Das Geheimnis der Henkelmänner ist gelüftet: Halbseidenes Licht fällt auf die Madame Cama Road. Nachdenklich mache ich mich auf den Heimweg.

       Für meinen Freund

      Mumbai – Udaipur, 20. Februar

      Traurige Nachricht aus Wien. Heinz Petters, der große Volksschauspieler, ist tot. Ich habe ihn gemocht. Sehr. Was habe ich nicht alles mit ihm gemacht, als Regisseur, als Kollege, als sein Direktor. Er war ein Kind der Bühne, der seinen Beruf immer auch als Spielzeug begriff. Er hatte Freude daran und er schenkte sie weiter. Nie hat er sein Publikum getäuscht, wie so viele seiner Kollegen diesseits der Rampe. Heinz blieb die unbeschwerte Ausnahme.

      Mein

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