Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens

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Karte mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen, und bat sie ihm zu übergeben, wenn er erwachte.

      Alle diese Vorgänge dauerten so lange, daß es elf Uhr schlug, als er das Hospital verließ. Er hatte für den Augenblick eine Wohnung in Covent-Garden gemietet und schlug den nächsten Weg nach diesem Quartier durch Snow Hill und Holbornstreet ein.

      Nach der Besorgnis und Teilnahme, die sein letztes Abenteuer hervorgerufen, wieder mit sich allein, versank er natürlich in träumendes Sinnen. Er konnte aber begreiflicherweise nicht zehn Minuten nachdenklich dahinschlendern, ohne daß ihm Flora einfiel. Sie erinnerte ihn notwendig an sein Leben mit all seinem Mißgeschick und seinem geringen Glück.

      Als er in seine Wohnung kam, setzte er sich vor das erlöschende Feuer, wie er an dem Fenster in seinem alten Zimmer gestanden und hinausgeschaut auf den geschwärzten Wald von Kaminen, und richtete seinen Blick auf die dunkle Reihe von Ereignissen, durch die er bis zu dieser Stufe seines Lebens gekommen war. Das war so lang, so leer, so kahl. Keine Kindheit, keine Jugend, mit Ausnahme einer Erinnerung; und die einzige Erinnerung hatte sich gerade heute als eine Torheit erwiesen.

      Es war ein Unglück für ihn, so unbedeutend es auch für einen andern gewesen sein möchte. Denn, während all das, was hart und streng in seiner Erinnerung war, sich als Wirklichkeit erwies – für Blick und Berührung hart blieb und nichts von seiner schrecklichen Widerlichkeit verlor –, sollte die einzige süßere Erinnerung seines Lebens nicht dieselbe Probe bestehen und zerfließen. Er hatte dies in der letzten Nacht vorausgesehen, als er mit wachen Augen geträumt; aber er hatte es damals nicht gefühlt; jetzt jedoch hatte er es gefühlt.

      Er war in solcher Weise ein Träumer; denn er war ein Mann, der einen in seiner Natur tief gewurzelten Glauben besaß, einen Glauben an alles Edle und Gute, das seinem Leben gemangelt. In Kargheit und hartem Verkehr aufgewachsen, hatte dieser Glaube ihn gerettet, daß er ein Mann von ehrenhafter Gesinnung und freigebiger Hand wurde. In Kälte und Strenge aufgewachsen, hatte dieser Glaube ihn gerettet, daß er ein warmes und teilnehmendes Herz behielt. Er war in einem Glaubensbekenntnis aufgewachsen, das zu finster war, um es in seinem Verfahren zu verfolgen, wie dadurch der Spruch, daß der Mensch nach dem Bilde seines Schöpfers geschaffen, in das Gegenteil davon verwandelt wurde, nämlich daß dieser Schöpfer nach dem Bilde eines verirrten Menschen geschaffen worden wäre. Vor diesem finstern Wähnen hatte ihn jener Glaube gerettet, so daß er nicht verdammte, sondern in Demut hilfsbereit war und Hoffnung und Liebe sich bewahrte.

      Und dieser Glaube schützte ihn auch vor der winselnden Schwäche und grausamen Selbstsucht, zu meinen, weil solch ein Glück oder solch eine Kraft nicht in seinen kleinen Lebensweg gekommen oder für ihn gearbeitet habe, deshalb liege es auch nicht in dem großen Plane; sondern wenn es einmal erscheine, sei es auf die niedrigsten Elemente zurückzuführen. Er besaß einen schwergetäuschten Geist, aber einen Geist, zu fest und zu gesund für solch ungesunde Luft. Während seine Seele ihn selbst im Dunkel ließ, konnte sie ans Licht kommen, und er sah es auf andere scheinen und heilsam wirken.

      Deshalb saß er vor seinem erlöschenden Feuer, traurig an den Weg denkend, den er bis zu dieser Nacht zurückgelegt, ohne jedoch Gift auf den Weg zu streuen, auf dem andere dahin gelangt waren. Daß ihm so viel fehlgeschlagen, und daß er in seinem Alter so weit um sich her nach einem Stabe blicken sollte, der ihn auf seinem Wege des nunmehr abwärts führenden Lebens stützen und ihn erheitern könnte, war ein gerechter Schmerz. Er blickte nach dem Feuer, dessen Flamme erlosch, dessen letzte Glut erstarb, dessen Asche grau und zu Staub wurde, und dachte: »Wie bald wird auch mit mir diese Wandlung vorgehen und ich dahin sein!«

      Die Rundschau seines Lebens glich dem Herabsteigen an einem grünen Baume mit Blüten und Früchten, dessen Äste verdorren und abfallen, während man sich an ihm herabläßt.

      »Von dem unglücklichen Druck meiner frühesten Jugend, durch das strenge und lieblose spätere Leben im elterlichen Hause, meinen Weggang, mein langes Exil, meine Heimkehr, meiner Mutter Willkommen, meinen Verkehr mit ihr seit jener Zeit, bis zu dem heutigen Nachmittag mit der armen Flora«, sagte Arthur Clennam, »was habe ich gefunden?«

      Seine Tür wurde leise geöffnet, und das Wort, das durch die Öffnung gesprochen wurde, erschreckte ihn: es klang wie eine Antwort:

      »Klein-Dorrit.«

      Arthur Clennam stand rasch auf und sah sie an der Tür stehen. – Diese Geschichte muß bisweilen mit Klein-Dorrits Auge sehen und beginnt dies Verfahren mit seinem Anblick.

      Klein-Dorrit sah in ein dunkles Zimmer, das ihr sehr geräumig und prachtvoll möbliert erschien. Vornehme Ideen von Covent-Garden, als einem Ort mit herrlichen Kaffeehäusern, wo Gentlemen mit goldgestickten Kleidern und Degen gekämpft und Duelle ausgefochten haben; köstliche Ideen von Covent-Garden, als einem Ort, wo es im Winter Blumen zu einer Guinee das Stück, Ananas zu einer Guinee das Pfund, und zarte Gemüse zu einer Guinee das Kilo gab; malerische Ideen von Covent-Garden, als einem Ort, wo ein prachtvolles Theater stehe, das reich gekleideten Damen und Herren wundervolle und reizende Schauspiele biete und das der armen Fanny und dem armen Onkel ewig unerreichbar bleibe; traurige Ideen von Covent-Garden, als dem Ort mit den Gewölben, wo die elenden Kinder in Lumpen, an denen sie gerade vorübergekommen, wie junge Ratten, versteckt und heimlich, vom Abfall genährt, um der Wärme willen zusammengekauert saßen oder herumgetrieben wurden (seht diese Ratten an, Jung und Alt, all ihr Barnacles; denn bei Gott, sie durchnagen unsere Grundmauern, daß die Dächer über unsern Häuptern zusammenstürzen!); überschwengliche Ideen von Covent-Garden, als einem Ort vergangener und gegenwärtiger Geheimnisse und Märchen, einem Ort des Überflusses und Mangels, der Schönheit und Häßlichkeit, hübscher ländlicher Gärten und schmutziger Straßengossen, alles durcheinander – machten das Zimmer düsterer in Klein-Dorrits Augen, als es war, während sie es von der Tür aus betrachtete.

      Anfangs saß der Gentleman, den sie suchte, vor dem erloschenen Feuer und wandte sich dann staunend nach ihr um. Der braune, ernste Mann, der so freundlich lächelte, der so offen und bedachtsam in seinem Wesen war und in dessen Ernst doch etwas lag, das sie an seine Mutter erinnerte, aber mit dem Unterschied, daß ihr Ernst etwas Herbes, während der seine etwas Mildes hatte. Er betrachtete sie mit dem aufmerksamen und fragenden Blicke, den Klein-Dorrit nie auszuhalten vermochte und dem sie auch jetzt nicht standhalten konnte.

      »Mein armes Kind! Hier um Mitternacht?«

      »Ach«, sagte Klein-Dorrit, »Sir, um Sie vorzubereiten. Ich dachte mir, Sie würden sehr überrascht sein.«

      »Sind Sie allein?«

      »Nein, Sir, ich habe Maggy mit mir genommen.«

      Maggy, die ihr Erscheinen durch diese Erwähnung ihres Namens genügend vorbereitet glaubte, erschien mit breitem Grinsen an der Tür. Sie unterdrückte jedoch augenblicklich diese Kundgebung und nahm eine feierliche Miene an.

      »Und ich habe kein Feuer«, sagte Clennam. »Und Sie sind –« Er wollte sagen zu leicht gekleidet, hielt jedoch damit inne, da es eine Anspielung auf ihre Armut gewesen, und sagte statt dessen: »und es ist so kalt.«

      Indem er den Stuhl, von dem er aufgestanden, näher an das Kamingitter schob, forderte er sie auf, sich hineinzusetzen, brachte rasch Holz und Kohlen herbei, legte sie übereinander und begann ein Feuer anzumachen. »Ihr Fuß ist wie Marmor, mein Kind«, sagte er; er hatte ihn zufällig berührt, während er, auf einem Knie liegend, das Feuer anzündete; »stellen Sie ihn näher an die Wärme.« Klein-Dorrit dankte ihm rasch. Er sei ganz warm, sehr warm! Es verwundete sein Herz, zu fühlen, daß sie ihre dünnen, abgetragenen Schuhe verbarg.

      Klein-Dorrit schämte sich nicht ihrer armen Schuhe. Er kannte ihre Geschichte,

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