Komplexitätsmanagement. Michael Reiss
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Komplexitätsmanagement - Michael Reiss страница 18
(V) Diversität & Dynamik: Eine Orientierungsunsicherheit bei der Lösung von Problemen erhöht die Anzahl und die Streuung von Lösungsschritten, etwa in Form eines Zickzack-Kurses, eines »Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück«-Vorgehensmusters oder von Iterationen. In der Politik erweisen sich Minderheitsregierungen oder knappe Mehrheiten in Parlamenten, die durch ein Abweichen vom demokratischen Mehrheitsprinzip zustande kommen, als instabil. In der Medizin verursacht eine fehlende Eindeutigkeit der Diagnose einer Krankheit (z. B. im Fall unbekannter Viren) eine verstärkte Ausbreitung der Krankheit (Vielzahl). Zusammengesetzte Preise, also mehrere bekannte Preisbestandteile (z. B. Mineralölsteuer, Ökosteuer, Erdölbevorratungsbeitrag, Mehrwertsteuer), verbessern die Preistransparenz für die Abnehmer (Greenleaf et al. 2016).
Eine komplexere Variante des Dimensionen-Verbunds ist der mehrstufige Verbund über mehr als zwei Komplexitätsdimensionen. Er lässt sich beispielsweise dadurch generieren, dass man mehrere zweistufige Verbundbeziehungen verkettet. So münden z. B. konfliktäre Mehrfachzielsetzungen nicht selten in schwammige Kompromisse, die wiederum neue Konflikte auslösen. Wie uns die Forschung zum Einstellungswandel lehrt, kommt ein Wandel nur zustande, wenn die Erschütterung vorhandener Einstellungen durch Hinweise auf alternative Einstellungen (Unfreeze) mit Argumenten kombiniert wird, die für eine konkrete Handlungsoption (Move) sprechen. Beim Job Sharing beispielsweise sorgt nicht allein die Zahl der Stelleninhaber, sondern deren Diversität für flexible Möglichkeiten einer Arbeitsteilung, z. B. mit Blick auf familienorientierte Arbeitszeiten. Hinzu kommen Optionen der Stellvertretung bei Ausfall von einem der Stelleninhaber.
Der anhand von Beispielen skizzierte Dimensionen-Verbund hat zur Folge, dass man beispielsweise das Wesen von Hybriden nicht eindeutig anhand einer spezifischen Komplexitätsdimension, sondern anhand mehrerer, sehr unterschiedlicher Komplexitätsmerkmale definieren kann: So steht eine doppelte Staatsbürgerschaft z. B. einerseits für Diversität (stark ausgeprägte Vielfalt), andererseits für Ambiguität, d. h. eine schwach ausgeprägte Identität. Ähnlich kann man die Eignung von Cash Flow als Liquiditäts- und als Ertragskennzahl aus der Komplexitätsperspektive zum einen als (additive) Multifunktionalität, zum anderen als (alternative) Ambiguität interpretieren.
1.2.5.4 Domänen-Verbund
Die hochgradige Vernetztheit von Prozessen und Ereignissen erfordert einen ganzheitlichen Zugang, der mehrere Domänen miteinander verbundener Komplexitätsphänomene abdeckt. Mit anderen Worten erzeugt die Komplexität auf der Objektebene (»Allverbundenheit«) eine weitere Facette der Metakomplexität. Komplexität ist in aller Regel kein »lokales« Phänomen. Die isolierte Auseinandersetzung mit der Komplexität eines Unternehmens, eines Marktes, einer Geschäftseinheit, einer Abteilung, einer Legislaturperiode (von einem Wahltermin zum nächsten Wahltermin) oder einer Lebenszyklusphase, abgekoppelt von anderen Systemen oder Subsystemen, wird in aller Regel den tatsächlichen Umfang der jeweiligen Komplexität unterschätzen, etwa die Komplexität einer Supply Chain oder eines Produktlebenszyklus. Bekanntlich erlaubt beispielsweise die Identifikation lokaler Engpässe noch keine Identifikation des Minimumsektors. Ebenso wenig repräsentieren lokale Optima das Gesamtoptimum. Klassische Abhängigkeiten bestehen des Weiteren zwischen den Domänen »Realgütersphäre« und »Finanzsphäre« sowie zwischen Produktkomplexität und Prozesskomplexität (Adam/ Johannwille 1998). Auch die Tensor-Organisation mit einer Projekt-, Produkt- und Funktions-Domäne gehört in diese Kategorie. Ein Komplementärverbund kennzeichnet ferner das Zusammenspiel der Promotorentroika aus Fach-, Macht- und Prozesspromotoren im Innovationsmanagement aus drei (komplementär verknüpften) Rollendomänen. Das Gesetz von Conway basiert auf der Argumentation, dass im Rahmen der Software-Programmierung (z. B. von modularer ERP-Software) die Schnittstellen zwischen den Softwaremodulen ein isomorphes Abbild der Kommunikationsstrukturen zwischen den Organisationseinheiten in einem Unternehmen darstellen sollten.
Beim Diversitätsmanagement im Personalbereich handelt es sich um ein Multidomänen-Problem, das eine simultane Ausgewogenheit in Bezug auf die Domänen Geschlecht, Alter, Ethnizität und Nationalität erfordert. Auch das typische Komplexitätsphänomen der Netzwerkeffekte (Fainmesser/ Galeotti 2015) basiert auf einem Verbund von zwei oder mehr Domänen: Während direkte Netzwerkeffekte nur eine Domäne (z. B. die sogenannte »Same Side« eines Marktes) betreffen, erstrecken sich indirekte Netzwerkeffekte (Parker/van Alstyne 2005, S. 1496; Günther 2015; Johnson 2019) auf die »Other Side«, wenn der generierte Nutzen von der Mitgliederzahl (Dimension) auf der anderen Marktseite abhängt. Zweiseitige Märkte sind durch zwei oder mehr Abnehmer-Domänen (etwa Nutzer und Werbetreibende), mehrseitige Plattformen (Hagiu/ Wright 2015) durch zusätzliche Domänen gekennzeichnet. In analoger Weise wendet sich ein offener Brief an zwei Domänen, d. h. an den jeweiligen Adressaten und an die Öffentlichkeit.
Der in der Domänenlandschaft existierenden Von-An-Verbund (z. B. Lieferbeziehungen, Migration, Vererbung, Montage auf Basis von Erzeugnisbäumen oder Gozinto-Graphen) und der Wenn-Dann-Verbund (z. B. Netzwerkeffekte, Folgekonflikte, Spillover-Effekte oder Komplementärität zwischen Gütern) machen es erforderlich, neben den ursprünglichen Domänen auch verbundene Domänen einzubeziehen, wenn eine Kongruenz von Komplexitätsbedarf und Komplexität erreicht werden soll. Eine Komplexitätsreduktion mithilfe punktueller, auf eine einzige Domäne beschränkter Ansätze erweist sich insofern als kontraproduktiv, als sie anstelle einer Reduktion insgesamt eine Steigerung von Komplexitätsbedarfen über alle betroffenen Domänen bewirken können: So ruft eine strengere Reglementierung, z. B. von Beschäftigungsverhältnissen durch Mindestlohn und Sozialversicherungspflicht oder durch Verbote wie die Alkoholprohibition, Rauchverbote, Verbot der Tabakwerbung oder des aktiven B2C-Telefonmarketings, ein Reaktanzverhalten hervor: Hierbei handelt es sich um Aktivitäten der kreativen Suche nach Ausweichmöglichkeiten, Bypässen und Schlupflöchern (z. B. informelle Organisation oder Schattenwirtschaft), die paradoxerweise nicht weniger, sondern mehr Unordnung schaffen. Umgekehrt kann es durch eine schwächere Reglementierung, etwa die Legalisierung von Online-Glücksspiel oder bestimmter Drogen, gelingen, Schwarzmärkte zu dezimieren.
Interaktionen, also Kommunikation, Transaktionen, Konflikte oder Kooperationen, sind sehr häufig nicht auf die Domänen von zwei Akteuren (sogenannte Dyade), also Sender und Empfänger, Prinzipal und Agent oder Verkäufer und Käufer beschränkt. Darauf weist bereits die Komplexitätsformel »It Takes Three to Tango« hin (El Sawy et al. 2010): Man denke etwa an die Drittparteien in Gestalt von Intermediären (z. B. Entleiher bei der Arbeitnehmerüberlassung), an neutrale Drittparteien, mehrere durch eine Rentenpolitik betroffene Generationen oder die Kontrolleure der Kontrolleure, z. B. Rechnungshöfe. Es zeigt sich, dass die klassische dyadische Konfiguration der an einer Geschäftsbeziehung beteiligten Akteure die Ausnahme, die Triade hingegen die Regel bildet. Dies gilt bereits für die terminologische Spezifikation: Was die Geschäftsbeziehung zu einem Konkurrenten oder Komplementor ausmacht, lässt sich nur definieren, wenn gleichzeitig die Verbindungen zu Kunden (oder Lieferanten) einbezogen werden (Neumann 2016). Auf mehrseitigen Märkten existieren dabei zwei oder mehr als zwei Kategorien von Kunden. Auch das Gleichbehandlungsprinzip geht definitionsgemäß über die Zweiparteien-Interaktionen hinaus, weil weitere Parteien als Vergleichsmaßstab berücksichtigt werden müssen. Noch deutlicher wird dies beim Sechs-Augen-Prinzip für Transplantationskonferenzen zum Management von Organspenden oder bei Triple bzw. Quadruple Win-Modellen im komplexen Verhandlungsmanagement. Multiparteien-Konflikte sind typisch für das Gesundheitswesen, etwa Verteilungskonflikte zwischen Krankenversicherungen, Anbietern von medizinischen Dienstleistungen, Patienten und Pharmaindustrie.
Modelle des so genannten Value Net beruhen auf fünf Wertschöpfungsakteuren: Hersteller, Lieferanten, Kunden, Komplementoren und Konkurrenten (