Komplexitätsmanagement. Michael Reiss

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die nur über manifeste Variablen, Indikatoren (Proxies) oder Ersatzgrößen (z. B. Aussagen, Verhaltensweisen, Spendenvolumen) erfasst werden können, Rauschen bei Telefongesprächen, Phasenrauschen (»Jitter«) bei der Internet-Kommunikation sowie positive oder negative externe Effekte von individuellen Entscheidungen auf den Nutzen anderer Akteure. Diese sind nicht transparent in Verträgen geregelt und werden auch nicht in Marktpreisen erfasst.

      Intransparenz charakterisiert darüber hinaus den Einfluss einer sogenannten vierten Gewalt (Medien), der Rechtsprechung, wenn diese die Interpretationsspielräume in unzureichend konkretisierten Gesetzen kompensiert oder von Sachverständigen, die den Ausgang von Gerichtsverfahren beeinflussen. Digitale Interaktionen sind intransparent, solange man nicht weiß, ob sich hinter einem Akteur ein Mensch oder ein Roboter verbirgt. Sogenannte Wizard-of-Oz-Experimente sind intransparent, weil die menschlichen Probanden annehmen, mit einem KI-System zu kommunizieren, obwohl tatsächlich andere Menschen die Reaktionen dieses Systems steuern. Die Undurchsichtigkeit wird mitunter bildhaft beschrieben, etwa als Black Box, Kompetenzgerangel, graue Eminenzen, Gremiendschungel, Tafelgeschäfte, Insiderinformationen (nicht der Öffentlichkeit bekannt), Dark Pools (Handelsplattformen für Finanzprodukte außerhalb der Börsenaufsicht), Zaubertricks, Taschenspielertricks und Schleier, z. B. die Lagerhaltung als Schleier, der das Erkennen von Koordinationsdefiziten in Geschäftsprozessen behindert.

      Von Unklarheit spricht man, wenn eine eindeutige Spezifikation fehlt. Sie äußert sich beispielsweise in Interpretationsspielräumen, Zweifeln, einem Hinterfragen, der Indifferenz, kritischen Haltungen, »alternativen Fakten« oder einer Bibelexegese. Einige Zeitangaben, die die unterschiedlichen Zeitzonen ignorieren oder nicht zwischen 10 Uhr und 22 Uhr unterscheiden, führen zu Verwechslungen. Alternative Begriffsdefinitionen, etwa von »Institution«, »relevantem Markt«, »Wert« (Substanz-, Rest- oder Zeitwert, diskontierte Wertansätze), der sogenannten MENA-Region (Middle East & North Africa), »Kundenwert« (Wert für den Kunden oder Lifetime Value des Kunden) oder von »Drittparteien«, mit denen entweder Dienstleister für eine der originären Parteien oder integrative Dienstleister (z. B. Logistikdienstleister, Notare, Gerichte) für beide Parteien gemeint sein können. Für Unklarheit sorgen auch zusammengesetzte Muster, die die Abhängigkeiten zwischen zwei Variablen erfassen: Zu den klassischen Beispielen zählen geknickte Preis-Absatz-Funktionen, doppelt geknickte Preis-Absatz-Funktionen und Wendepunkte. So besteht etwa laut Yerkes-Dodson-Gesetz ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang zwischen dem Aktivierungsniveau und der Leistungsfähigkeit.

      Unschärfe im Sinne einer mangelnden Unterscheidbarkeit repräsentiert eine weitere Kategorie von Vieldeutigkeit. Sie ist charakteristisch für multifunktionale Entitäten (z. B. Dual Use-Güter), Karteileichen und zahlreiche Hybridkonstrukte. Man denke etwa an produzierende Dienstleister und dienstleistende Produzenten, arbeitnehmerähnliche Auftragsunternehmer, die mangelnde Trennschärfe zwischen Arbeitszeit und Freizeit, z. B. bei Home Office-Modellen, sowie die Geschäftsbeziehung zwischen Sparern und Banken, die sowohl als eine Überlassung von Finanzmitteln (gegen positive Zinsen) als auch als deren sichere Verwahrung durch die Bank (gegen negative Zinsen) interpretiert werden kann.

      Mangelnde Echtheit oder fehlende Authentizität liegen vor, wenn man Sein und Schein nicht auseinanderhalten kann. Diese Komplexität tritt beispielsweise auf im Zusammenhang mit Scheinselbständigkeit (arbeitnehmerähnliche Tätigkeit eines Selbständigen), Nachahmungen und Nachbildungen (z. B. Klone, Digital Twins, naturidentischen Aromastoffen, Marktsimulationen, Verrechnungspreisen statt Markpreisen, Kunstschnee, Dermoplastik), sogenannten Matrixsurrogaten (z. B. gemischt konfigurierte Gruppen), Fake News, Fälschungen, Kopien, Falschgeld, Produktpiraterie (Produktfälschungen), Plagiaten, Gerüchten, Vermutungen, Halbwahrheiten sowie irreführenden Tricks.

      Mehrdeutigkeit repräsentiert je nach Kontext nicht nur einen Komplexitätsbedarf, sondern auch ein Komplexitätspotenzial. Auf Mehrdeutigkeit basieren zahlreiche Geschäftsmodelle, nicht nur von Illusionisten, Zauberern oder Bauchrednern, sondern auch von Insidern. Das gilt ebenso für die Vermarktung von Lebensmitteln als Heilmitteln oder von Brillen als modischen Accessoires. Die Beispiele verdeutlichen, dass nicht nur Einzigartigkeit und Unverkennbarkeit, sondern auch Ambiguität als Basis für Wettbewerbsvorteile fungieren kann. Das Spektrum der Ambiguitätspotenziale wird komplettiert durch (kontingente) Alternativpläne, Handlungsspielräume, Ambiguitätstoleranz, Fehlertoleranz, Toleranz von Gruppen gegenüber abweichendem Mitgliederverhalten und durch Robustheit, wenn die Funktionstüchtigkeit eines Systems nicht durch Veränderungen und Fehleinschätzungen beeinträchtigt wird.

      Veränderlichkeit fungiert als Sammelbegriff für alternative Ausprägungen, die nicht wie bei der Vieldeutigkeit zum selben Zeitpunkt, sondern sequenziell verteilt über die Zeitachse auftreten. Das Spektrum der Veränderungsmuster umfasst das (annähernd) lineare Wachstum (z. B. globale Erwärmung), das exponentielle Wachstum (z. B. Epidemien, Leverage-Effekte, galoppierende Inflation), aber auch rhythmische Veränderungsmuster. Sie werden induziert durch Legislaturperioden oder Rotationssysteme (z. B. EU-Ratspräsidentschaft) sowie durch Oszillationen, zyklische Phänomene im Konjunkturverlauf, im Klima und im Geschäftsverlauf, etwa Moden, Weihnachtsgeschäft und Kundenfrequenzen im Tagesablauf.

      Für hohe Veränderlichkeit sorgen Unstetigkeiten (z. B. erratische Extremwetterlagen, mutierende Viren, Sprünge), hohe Veränderungshäufigkeiten (z. B. Änderungen der Treibstoffpreise pro Tag), Schwellenwerte (etwa Wachstumsschwellen), fluktuierenden Mengen von Sonnen- und Windenergie, kurzlebige Strohfeuer, Hypes und temporäre Lösungsansätze (Braun/ Sydow 2019): Man denke etwa an die Projectification (Geschäfte werden zunehmend als Sonderaufgaben und nicht als Regelaufgaben abgewickelt), das Geschäftsmodell der Gig Economy, das Interim-Management oder die befristete Beschäftigung. Im Gegensatz dazu stehen Stationärität, Stillstand, Reformstau, Habitualisierung oder Pfadabhängigkeit für eine schwach ausgeprägte Veränderlichkeit.

      Nicht selten deckt jede der vier Komplexitätsdimensionen weitere Komplexitätsaspekte als Subdimensionen ab. So wird in der Zeitreihenanalyse von Konjunkturdaten oder Klimadaten davon ausgegangen, dass die Dynamik aus einem oder mehreren systematischen Mustern (z. B. Erderwärmungstrend, saisonale Schwankungen, Langzeitzyklen) und zufälligem Rauschen (z. B. extreme und unregelmäßige Wetterphänomene, Schocks) besteht.

      Wie in Abbildung 2 dargestellt, kann das gesamte Spektrum der Beispiele für Komplexität durch eine Kombination von vier Komplexitätsdimensionen ausgelegt und erklärt werden. Dieses Dachkonzept vereint die getrennte Modellierung von Komplexität, Vielzahligkeit, Dynamik und Unsicherheit. Hieraus ergeben sich zunächst marginale Konsequenzen für die Komplexitätssemantik. So müssen bei der Anwendung der vierdimensionalen 4V-Terminologie die Begriffe »komplexes adaptives System« oder »komplexe dynamische Systeme« (McDaniel jr. 2007; Schneider/ Somers 2006; Turner/ Baker/ Morris 2018) dahingehend umformuliert werden, dass auf zwei Dimensionen der Komplexität verwiesen wird, z. B. auf »heterogen konfigurierte und adaptive/dynamische Systeme«.

      Deutlich mehr Relevanz hat die Notwendigkeit, bestimmte Domänen nicht selektiv anhand einer einzigen Komplexitätsdimension, sondern anhand eines vierdimensionalen 4V-Komplexitätsprofils zu beschreiben. Komplexe Interaktionen im 4V-Profil sind beispielsweise durch mehrere Akteure (Beschreibungsformeln: »It Takes Three to Tango« oder »Triple Win«), Machtunterschiede (z. B. Informationsasymmetrie), Mixed Motives, den Aufbau von Gemeinsamkeiten (z. B. einer Vertrauensbasis) oder den Wechsel von Zusammenarbeit zu Wettbewerb gekennzeichnet. Das Komplexitätsprofil des vollkommenen Marktes steht im Zeichen einer extrem reduzierten Komplexität. Sie äußert sich in der Homogenität von Gütern bzw. der Präferenzfreiheit von Akteursbeziehungen (Gesetz von der Unterschiedslosigkeit der Preise), in einmaligen Spot-Transaktionen und dem Fehlen von Intransparenz, externen Effekten, Unsicherheit, Reaktions- und Wirkungslags sowie Informationsdefiziten. Wenn man im Zusammenhang mit diesem Lehrbuchkonzept von »hoher Komplexität« sprechen kann, dann lediglich mit Verweis auf die extreme Abweichung des Konzepts von der Realität.

      Das 4V-Komplexitätsprofil des Kostenbegriffs setzt sich aus dem Mengengerüst, der Vielfalt von Kostenkategorien (z. B. fixe und variable

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