Komplexitätsmanagement. Michael Reiss
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Komplexitätsmanagement - Michael Reiss страница 12
![Komplexitätsmanagement - Michael Reiss Komplexitätsmanagement - Michael Reiss](/cover_pre870957.jpg)
Abweichungen als eine meist quantifizierte Erscheinungsform von Vielfalt treten in mehreren Varianten auf. Einerseits geht es um Abweichungen von einer Norm, z. B. Soll-Ist-Abweichungen in Gestalt von Fehlern, Fehlmengen, ungeplanten Terminüberschreitungen oder falschen Aussagen. Hinzu kommen die Ungleichbehandlung, also Diskriminierung in Arbeitsverhältnissen oder Wettbewerbsverzerrungen durch Subventionspolitik, der sogenannte Mittelstandsbauch (schnell steigender Grenzsteuersatz bei den geringen und mittleren Einkommen) oder die Immunität von Mandatsträgern, aber auch das Imparitätsprinzip, d. h. die ungleiche Behandlung nicht realisierter Gewinne und Verluste. Die Palette der Abweichungen enthält ferner mannigfache Erscheinungsformen von abweichendem Verhalten, z. B. ziviler Ungehorsam, Non-Compliance oder Falschfahrer auf Autobahnen, einschließlich illegalem Verhalten, etwa Betrug, Steuerhinterziehung, CEO Fraud, Ransom-Software als Geschäftsmodell oder Insidergeschäfte. Abweichungen zu vermeiden ist das Ziel von Simulationen, Emulationen, Approximationen sowie homomorphen und isomorphen Nachbildungen, etwa digitale Zwillinge, d. h. die weitgehende Übereinstimmung eines Realobjekts und dessen digitaler Repräsentanz.
Hinzu kommen andererseits Abweichungen zwischen zwei Ist-Größen. Beispiele sind die Abweichung von einer Benchmark, von einem Durchschnittswert, z. B. vom Dax, von der zehnjährigen Durchschnittstemperatur sowie vom Vorjahreswert. Abweichungen prägen zudem einige »Alternativ-Konzepte«, etwa »alternative Arbeitszeitmodelle« (Abweichungen vom Normalarbeitsverhältnis), Alternative Dispute Resolution-Verfahren (Konfliktbehebung ohne Gerichtsverfahren), Gleichverteilungen als Abweichung von der Normalverteilung oder ein atypisches bzw. anomales Nachfrageverhalten, z. B. der Snob-Effekt. Hinzu kommen Kreditierung (zeitliche Abweichung zwischen Zurverfügungstellung und Rückzahlung), außerordentliche Aufwendungen und Erträge, Sondereinflüsse, Auffälligkeiten sowie Ausnahmeentscheidungen, z. B. Ministerentscheidungen oder Begnadigungen.
Einige Abweichungen schaffen nicht nur Komplexitätsbedarfe, sondern auch Komplexitätspotenziale. So sorgen beispielsweise die Preisdifferenzierung, das typisierte Bauen oder die personalisierte Medizin für ein Flexibilitätspotenzial. Eine untypische riskante Vorleistung (z. B. die den Geschäftspartnern gewährte Einsichtnahme in Daten des Rechnungswesens) hat eine vertrauensbildende Wirkung.
Eine extreme Spielart von Vielfalt bilden Ausnahmephänomene. Man denke an Ausreißer, Exoten, Fat Cats in der Vergütungsstatistik, Neobiotika (gebietsfremde Fauna und Flora), Pandemien, obere und untere Perzentile in einer Normalverteilung, Notfälle (im Gesundheitswesen), Inversionswetter, Sonderwirtschaftszonen, kommissarische Leitung, Black Friday im Einzelhandel, Bursts (Spitzen) in Zeitreihen (z. B. Häufigkeit der medialen Behandlung von Hype-Themen), das Dezember- bzw. Novemberfieber, sogenannte »Never Events« (großer Schaden, geringe Wahrscheinlichkeit), Einträge im Guiness Buch der Rekorde, schwarze Schwäne, El Niño, Wunderkinder oder Nachfragespitzen in Absatzzeitreihen, z. B. im Gefolge von Abwrackprämien. Ausnahmen sind zudem das Resultat von Zweckentfremdung (Exaptation), etwa die Umnutzung von Medikamenten, der Einsatz von Baseballschlägern und Fahrzeugen als Waffen, die gewerbliche Nutzung von Wohnraum, die Verwendung von Messe- oder Turnhallen als Übernachtungsmöglichkeit für Katastrophenopfer oder von Handys als Taschenlampen.
Unausgewogenheit begegnet uns z. B. in Gestalt von schiefen Häufigkeitsverteilungen, der Konzentration der Vermögensverteilung (z. B. weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung besitzen mehr als 40 Prozent des weltweiten Vermögens) oder unausgewogenen Kostenstrukturen: So zeichnen sich beispielsweise die Kostenstrukturen von digitalen Medienprodukten (z. B. Computerspielen) durch einen sehr niedrigen Anteil von variablen Kosten aus, weshalb hier von »grenzkostenloser Produktion« gesprochen wird. In Server-Client-Systemen mit »Thin Clients« ist die Kostenstruktur beispielsweise durch hohe Gemeinkostenanteile geprägt.
Zahlreiche Erscheinungsformen von Vielfalt gehen auf das Konto der Gegensätzlichkeit von zwei gleichzeitig auftretenden Elementen. Im Zentrum stehen dabei etwa Spannungen in Entscheidungssituationen (Knight/ Paroutis 2017; Karhu/ Ritala 2020), Konflikte, z. B. Standards Wars (»Android versus iOS«), Normengegensätze, z. B. IFRS versus HGB und die Ranglisten unterschiedlicher Boxverbände. Gegensätzlichkeit kennzeichnet ferner den Rassismus, antagonistische Steuerungssysteme, z. B. Gehirnhälften, Gewaltenteilung, Ich, Es und Über-Ich, Sympathikus und Parasympathikus, Contre Rôle-Philosophie des Controllings und die Dialektik, z. B. die Advocatus Diaboli-Methode. Im Katalog der Unverträglichkeiten finden sich außerdem strategische Misfits (z. B. Diversifikationsstrategie in Verbindung mit einer Funktionalorganisation), Unverträglichkeiten zwischen mehreren Medikamenten, Kannibalisierung von Geschäftsfeldern, Widerlegung (Diskrepanz von Hypothese und Evidenz), kognitive Dissonanzen und Disharmonien. Eine wichtige Quelle von Gegensätzlichkeit ist die Rollenhäufung: Sie kann zum einen für ein eher geringes Ausmaß an Gegensätzlichkeit sorgen, etwa im Fall eines Third Party Logistics Provider, der eigene Logistikdienste anbietet und darüber hinaus als Koordinator von Logistik-Subunternehmern agiert, ferner im Fall der Kombination von Händler- und Plattformbetreiber-Rolle, Reviewer und Reviewee in Peer-Review-Verfahren (z. B. Steuerberater) oder bei Selbstbedienung, Customer Self Payment oder Do It Yourself-Aktivitäten. Deutlich mehr Gegensätzlichkeit tritt bei hybriden Rollenkombinationen auf, etwa Anwaltsmediatoren oder bei der Polizei, wenn sie nicht nur als Ordnungshüter, sondern auch als Konfliktmanager bei gleichzeitig stattfindenden Demonstrationen und Gegendemonstrationen agieren soll. Gegensätzlichkeit kann auch Komplexitätspotenziale generieren, etwa in Gestalt von Augmented Reality, Mixed Reality oder sogenannten hybriden Sourcing-Systemen: Hier werden relationale Service Level Agreements mit Spot-Einkaufsverträgen kombiniert.
Vieldeutigkeit: Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Elemente alternativ auftreten. So ist jede Zufallsvariable insofern vieldeutig, als sie eine Menge von alternativen Realisierungen verkörpert, denen Wahrscheinlichkeiten zugeordnet sind. Das Konzept der Opportunitätskosten beispielsweise beruht definitionsgemäß auf zwei alternativen Verwendungen desselben Inputfaktors. Mitunter ist die Fixierung dessen, was als Alternativverwendung gelten soll, relativ willkürlich. Ungewissheit als eine Kategorie von Mehrdeutigkeit äußert sich in alternativen Erwartungen, Szenarien, eingeschränkter Prognostizierbarkeit, Unwägbarkeiten, dubiosen Forderungen (Ausfallrisiken, z. B. bei sogenannten Zombieunternehmen), Unzuverlässigkeit, freibleibenden (d. h. unverbindlichen) Angeboten, schwebenden Verfahren (»Pending«), Orientierungsproblemen, Verwirrung, Konfusion, z. B. Customer Confusion in Einzelhandelsverkaufsstätten (Garaus/ Wagner 2019) und statistischen Irrtumswahrscheinlichkeiten, wenn das Alternativenspektrum auf zwei Hypothesen (Null- und Alternativ-Hypothese) und zwei Aktionen (Annehmen/ Verwerfen) reduziert wird (Bankhofer/ Vogel 2008, S. 125 ff.).
Intransparenz verhindert, dass bestimmte Sachverhalte eindeutig erkannt werden können (Albu/ Flyverbom 2019). Man denke etwa an fehlende Bilanzklarheit oder an die implizite Zustimmung durch Verzicht auf ein Opt-out im Unterschied zur explizit-transparenten Einwilligung durch ein Opt-in. Die intransparenten Sachverhalte werden als »verborgen«, »verdeckt« (z. B. verdeckte Arbeitslosigkeit oder verdeckte Auktionen, bei denen die Gebote nicht allseits bekannt sind), »latent« (z. B. latente Steuern), »still« (z. B. stille Selbstfinanzierung oder stille Reserven) oder »versteckt« (z. B. Hidden Intentions oder Hidden Costs) bezeichnet. Beim Datenschutz, der Geheimhaltung, der Desinformation und der Tarnung handelt es sich um Aktivitäten, mit denen bewusst eine Intransparenz geschaffen werden soll. Ebenfalls durch Intransparenz gekennzeichnet sind Anonymität (z. B. unterdrückte Telefonnummern), implizites Wissen (Tacit Knowledge), das weder verbalisiert noch formalisiert werden kann, der Einsatz von Bargeld, informelle Beziehungen (z. B. psychologische Verträge zur Loyalität zwischen Vertragsparteien),