Behemoth. Franz Neumann
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Je mehr wir uns der modernen Zivilisation nähern, desto mehr wird das Charisma von den sozialen und politischen Verpflichtungen des Königs getrennt.
Die orientalische Vorstellung vom Königtum, ja selbst der messianische Gedanke des Alten Testaments, beruhen auf der charismatischen Lehre. Der Grundgedanke ist, daß es ein urzeitliches Ungeheuer gegeben habe, das die Inkarnation des Bösen und der Feind Gottes und der Menschen gewesen sei (Tehom-Mythos).37 Jahwe, der Erlöser, habe dieses Ungeheuer schließlich vernichtet und zeitweiligen Segen über das Volk gebracht. Dies, der Grundgedanke nicht nur des Alten Testaments, sondern aller anderen orientalischen Religionen, liegt dem Glauben an die göttliche und magische Kraft der Könige zugrunde. Der König ist nicht nur Gottes Stellvertreter auf Erden, er ist der Gott. Heroen, wenn sie wahre Helden gewesen sind, waren ursprünglich nicht Menschen, sondern Götter.38 »Die frühestbekannte Religion ist der Glaube an die Göttlichkeit der Könige.«39
Die orientalische Vorstellung vom Königtum wurde von Alexander dem Großen nach Europa eingeführt. Vor seiner Zeit waren die griechischen Herrscher gänzlich politische Gestalten, ihr Verhältnis zum Volk hat einen rein rationalen Charakter besessen. Seit Alexander sind Könige als Götter verehrt worden.40 Der ideologische Abstand zwischen dem Reich Alexanders und dem des Augustus ist gering. Augustus wurde als Messias betrachtet41, wie Horaz’ Beschreibung zeigt: »Majas leichtbeschwingter Sohn … weile gern in des Quirinus Staat.«42
In der Geschichte der Germanen war das Charisma nicht an die Person des Königs, sondern an das Stammesgeschlecht gebunden43, wurde dabei jedoch nie als die einzige Quelle von Autorität und Gesetz betrachtet; die Zustimmung des Volkes war ebenso wichtig wie die Aura des auserwählten Geschlechtes. In der fränkischen Tradition verkörperte sich das Charisma in den wallenden Locken der Frankenkönige, die ihnen außergewöhnliche Macht und Glück verliehen. Dieser Glaube war gewiß nicht christlichen Ursprungs, was deutlich aus der Tatsache hervorgeht, daß die Kirche die germanische Auffassung von der Blutslegitimität ablehnte. Und doch leistete die Kirche durch einen verhängnisvollen historischen Zufall einen außerordentlichen Beitrag zur Wiederbelebung des charismatischen Glaubens. Nach dem Sturz der Merowinger-Könige und der Errichtung der Karolinger-Dynastie salbte die Kirche Pippin und übertrug so das Charisma von den Merowingern auf die Karolinger. Der Papst, der Prophet des Naturrechts, bestätigte den Staatsstreich der Karolinger und machte die Salbung sogar zu einem Sakrament, indem er dem neuen Herrscherhaus Gottes Gnade erteilte. Mit diesem Akt gab die Kirche aus Zweckdienlichkeitsgründen ihre alte Politik, die Verehrung der Könige als Götter abzulehnen, auf, eine Politik, die sie bei den byzantinischen Königen, namentlich gegen die Proskynese, mit aller Heftigkeit verfochten hatte.
Kurz darauf mußte die Kirche indes ihren Kampf gegen die Vergötterung der Könige wieder aufnehmen. Seit Robert dem Frommen hatten die französischen Könige, wie die Plantagenets in England, die Kraft zu heilen für sich in Anspruch genommen. Angeblich konnte die Berührung des Königs Skrofel heilen, und bei festen rituellen Anlässen drängten sich Tausende von Menschen um den Herrscher, diesen Segen zu erlangen. Der Gregorianische Streit zwischen Papsttum und Königtum war nicht nur ein Kampf um die Vorherrschaft der weltlichen oder geistlichen Macht, sondern ein Kampf der Kirche gegen den Anspruch der Könige auf magische und übernatürliche Kräfte.44 Seit dieser Zeit galt die Salbung nicht mehr als Sakrament, der Kaiser wurde zu einem Laien.
Trotz dieser kirchlichen Opposition lebte die wundertätige Heilkraft der Könige im Volksglauben fort. Der deutsche Kaiser Barbarossa versuchte, dem Deutschen Reich heilige Attribute beizugeben, um den Papst zu bekämpfen. Er betrachtete sich als numen, als göttliches Wesen mit prophetischen Kräften. Seine Gesetze waren sacer, heilig, die res publica war diva, göttlich. Unter dem Einfluß der orientalischen Vorstellungen wurde Friedrich II. von Hohenstaufen als personifizierter Gott betrachtet, und John von Salisbury, der große englische Humanist, sah in dieser ganzen Entwicklungsrichtung völlig zu Recht ein Zeichen für eine Rückentwicklung zum Heidentum.45 Der Aberglaube an die Heilkraft der Könige hatte eine außerordentlich lange Blütezeit; er hielt sich bis weit in das Zeitalter des Rationalismus hinein. Philipp der Schöne von Frankreich und seine Umgebung beriefen sich erneut auf die königliche Heilkraft als Gegengewicht gegen die Ansprüche Papst Bonifacius’ VIII.46 und gelegentlich auch, um die Enteignung des Ordens der Templer zu erleichtern. Das 14. Jahrhundert erlebte eine Renaissance der wundertätigen Praktiken und Glaubenssätze; Luther berichtet darüber ohne ein einziges kritisches Wort47, in Frankreich und England erschienen Dutzende von Pamphleten über die Heilkraft des Königs. Die Regentschaft von Cromwell ist die einzige Periode, in der diese Heilung nicht ausgeübt wurde. Nach der Restauration wurde der Glaube zu neuem Leben erweckt und zeitigte unter Charles II. einen erstaunlichen Berg an apologetischer Literatur.48 In Frankreich verschwand der Glaube kurz nach der Revolution.
Der bezeichnende Tatbestand in der Geschichte der wundertätigen Praktiken des Abendlandes ist, daß magische Kräfte immer dann beschworen werden, wenn der Herrscher seine Unabhängigkeit von der Religion und von gesellschaftlichen Kräften zu erlangen suchte. Alexander brauchte die Vergötterung für seine imperialistischen Eroberungen. Da er über Menschen mit vielerlei Religionen herrschte, hätte seine Identifikation mit einer davon die Gefahr mit sich gebracht, alle anderen verwerfen zu müssen. Indem er seine eigene Person zum Gott erhob, überragte er alle bestehenden Religionen. Andere Formen der Rechtfertigung, wie die rationale Lehre des Aristoteles oder die von den Sophisten vertretene demokratische Lehre, kamen nicht in Frage. Auch Augustus empfand die Notwendigkeit der Vergötterung aus ähnlichen Gründen49, und die Karolinger griffen darauf zurück, weil sie die neue Monarchie mit verfassungswidrigen Mitteln errichtet hatten. Friedrich Barbarossa und Friedrich II. beschworen das Charisma als Hilfsmittel zur Verteidigung der weltlichen Macht gegen Übergriffe der Kirche. In Frankreich und England, wo die Macht des Königs, Wunder zu bewirken, von den verschiedensten Apologeten verteidigt wurde, diente die Verherrlichung des Monarchen auch zum vorbeugenden Schutz gegen den Widerstand des Volkes. Die Bourbonen, die Plantagenets und die frühen Tudors behaupteten alle, kleine Götter zu sein, um ihre Person mit der nötigen Macht ausstatten zu können, widerspenstigen Untertanen Ehrfurcht einzuflößen.
4. Die Psychologie des Charisma
Anthropologische Theorien über den charismatischen Anspruch sind nicht unser Thema, doch bedarf es einiger Worte der Erklärung, warum er zu neuem Leben erweckt worden ist. Zweifellos ist die angeblich übernatürliche Begabung des Herrschers eine verfälschte Form des messianischen Gedankens, dessen Vorläufer bis zu dem »urzeitlichen Ungeheuer, das die Inkarnation des Bösen und der Feind Gottes und der Menschen war«, zurückzuverfolgen sind. Jedoch erklären solche Vorläufer nicht die Psychologie des Charisma, die wesentlich wichtiger als seine historische Analyse ist. Was den charismatischen Anspruch selbst angeht, so reicht es nicht aus, ihn als eine »Folge der angeborenen menschlichen Eigenschaft, von einer höheren Macht abhängig zu sein«, als eine natürliche Suche »nach einem, der angesichts momentaner Not hilft«, zu beschreiben.50 Solche Aussagen erklären nicht, warum die charismatische Lehre in bestimmten Perioden der Geschichte aufkommt, oder warum bestimmte soziale Schichten ihr mehr vertrauen als rationalen Überlegungen.
Das Problem erfordert eine Analyse der psychologischen Vorgänge, die zu dem Glauben an die wundertätige Kraft eines Menschen führen, einem Glauben, der gewisse