Behemoth. Franz Neumann
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1. Die verfassungsmäßige Funktion des Führers
Der gängigen nationalsozialistischen Ideologie zufolge ist der Führer, Adolf Hitler, das verbindende Glied zwischen Staat, Partei und Volk. In der deutschen Etymologie hat der Begriff »Führer«, wie ein nationalsozialistischer Philosoph zugeben mußte, einen recht prosaischen Hintergrund.1 In der Armee, dem hierarchischen Modell, das die nationalsozialistischen Theoretiker so gerne beschwören, gibt es keine »Führer« (außer in den untersten Rängen). Dafür gibt es aber eine ganze Menge von »Führern« in ausgesprochen unheroischen Berufen: der Straßenbahnfahrer, der Lokomotivfahrer und der Schiffslotse hießen gewöhnlich »Führer«, wenngleich sie sich heute nicht mehr so nennen dürfen.
Das Führerprinzip bezeichnet vor allem anderen eine von oben nach unten und niemals umgekehrt aufgebaute Organisationsform. Es herrscht in allen sozialen und politischen Organisationen außer der Justiz, die, wie nationalsozialistische Juristen gerne sagen, immer noch nach »germanischen« Grundsätzen entscheidet, obwohl schwer einzusehen ist, warum diese angeblich germanische demokratische Praxis beim Richterstuhl beginnen und enden soll. Das Führerprinzip ist auch bei Industrieunternehmen, Konzernen oder Kartellen nicht verwirklicht.2 Um die nationalsozialistische Ideologie zu begreifen, ist das Verständnis der Führerfunktion unerläßlich.
Führung ist angeblich etwas völlig anderes als Herrschaft: der deutschen Ideologie zufolge macht gerade das Wesen der Führung den Unterschied des Regimes zur absolutistischen Herrschaft aus. Ähnlich wird Deutschlands Regiment in Europa nicht als Herrschaft bezeichnet. Vielmehr bestehe die »Neue Ordnung« in der »Führung« durch Deutschland und Italien. »Der Anspruch Deutschlands und Italiens heißt nicht mehr Herrschaft, sondern Führung«, heißt es in einem Leitartikel der Frankfurter Zeitung vom 5. Januar 1941.3
Adolf Hitler ist der oberste Führer. Er vereinigt in sich die Funktionen des obersten Gesetzgebers, des obersten Regierenden und des obersten Richters; er ist der Führer der Partei, der Wehrmacht und des Volkes. In seiner Person ist die Macht des Staates, des Volkes und der Bewegung vereint.4 Ursprünglich war der Führer nur Reichskanzler, rücksichtloser zwar und – kraft des Ermächtigungsgesetzes von 1933 – mächtiger als je einer seiner Vorgänger, aber dennoch nur ein Akteur unter vielen; seine Verordnungen bedurften der Gegenzeichnung durch seine Minister, und häufig konnte er nur über den Reichspräsidenten von Hindenburg tätig werden. Nach Hindenburgs Tod wurde das Amt des Präsidenten mit dem des Kanzlers (damals Führer und Reichskanzler, dann, seit Juli 1939, einfach Führer) vereinigt, und der Staat wurde einer einzigen Person überantwortet. Dieser Mann ist Führer auf Lebenszeit5, wenngleich niemand weiß, wovon sich seine Verfassungsrechte herleiten. Er ist von allen anderen Institutionen unabhängig, so daß er den nach Artikel 42 der Verfassung erforderlichen Verfassungseid nicht zu leisten brauchte (und auch nicht leistete). Er kann nicht durch Volksbegehren abgesetzt werden, wie das der Artikel 43 vorsieht. Er verwaltet die drei Ämter des Präsidenten, Kanzlers und Parteiführers nicht, sondern benutzt sie lediglich dazu, seine Macht zu demonstrieren. Die Reichsregierung ist keine Regierung; die 15 Minister sind nur dem Führer verantwortlich. Sie sind einzig und allein Verwaltungschefs, die von ihm nach Belieben ernannt und entlassen werden können. Kabinettssitzungen brauchen daher nicht einberufen zu werden und finden tatsächlich auch nur sehr selten statt, so daß der Führer als alleiniger Gesetzgeber übrig bleibt. Regierungsgesetze, die auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes von 1933 erlassen werden, sind keine Gesetze durch die Regierung im Sinne von innerhalb des Kabinetts getroffenen Beschlüssen, sondern Gesetze des Führers. Die Minister brauchen nicht zu Rate gezogen werden. Dasselbe gilt für Plebiszite und vom Reichstag erlassene Gesetze. Recht ist, was der Führer will, die Gesetzgebung ist Ausfluß seiner Macht. Ähnlich verkörpert er die administrative Gewalt, die in seinem Namen ausgeübt wird. Er ist Oberbefehlshaber der Wehrmacht (Gesetz vom 21. Mai 1935) und – wie wir noch sehen werden6 – oberster und unfehlbarer Richter. Seine Macht ist gesetzlich und verfassungsmäßig unbeschränkt; sie entzieht sich jeder Beschreibung. Ein Begriff, der keine Begrenzung hat, kann rational nicht definiert werden.
Am Tag von Hindenburgs Tod mußten alle Angehörigen der Reichswehr den folgenden Eid leisten: »Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.«7 Kabinettsmitglieder mußten folgendermaßen schwören: »Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, meine Kraft für das Wohl des deutschen Volkes einsetzen, die Gesetze wahren, die mir obliegenden Pflichten gewissenhaft erfüllen und meine Geschäfte unparteiisch und gerecht gegen jedermann führen, so wahr mir Gott helfe.« (Gesetz vom 16. Oktober 1934.) Die Eidesformel für die Beamten lautet so: »Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.« (§ 4 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26. Januar 1937.) Diese Eidesformeln zeigen, daß die oberste Führung keine durch Gesetze und Präzedenzfälle geregelte Einrichtung oder ein Amt mit delegierter Autorität, sondern die Machtvollkommenheit einer einzigen Person, Adolf Hitlers, ist.8 Die Rechtfertigung dieses Prinzips ist charismatisch: sie beruht auf der Annahme, daß der Führer mit Eigenschaften ausgestattet sei, die gewöhnliche Sterbliche nicht besitzen. Übermenschliche Eigenschaften strahlen von ihm aus und durchdringen Staat, Partei und Volk. Es erübrigt sich, die götzendienerischen Äußerungen von Parteimitgliedern, Ministern, Reichswehroffizieren, Universitätsprofessoren oder zahlreichen protestantischen Pfarrern hier zu zitieren.
Max Weber9 hat auf die allgemeine Erscheinung charismatischer Herrschaft hingewiesen und sie von allen rationalen und traditionalen Herrschaftstheorien klar abgegrenzt. Seine Entdeckung war in der Tat die Wiederentdeckung eines Phänomens, das so alt wie das politische Leben selbst ist. Charismatische Herrschaft ist lange Zeit vernachlässigt und lächerlich gemacht worden, hat aber offenbar weit zurückreichende Wurzeln und wird, wenn die geeigneten psychologischen und sozialen Bedingungen erst einmal vorhanden sind, zu einer machtvollen Antriebskraft. Die charismatische Macht des Führers ist kein bloßes Trugbild – niemand kann bezweifeln, daß Millionen an sie glauben. Wir schlagen an dieser Stelle vor, drei Aspekte des Problems zu untersuchen: den Ursprung der charismatischen Führung; die psychologische Verfassung derjenigen, die an sie glauben; endlich ihre gesellschaftliche Funktion. Um eine Antwort zu erhalten, werden wir die Geschichte befragen müssen.
2. Luther und Calvin
Das politische Denken des Mittelalters wurde von den irrationalistischen Philosophien des Absolutismus abgelöst, die sich eine ganze Weile hielten, bis sie ihrerseits vom modernen Rationalismus verdrängt wurden. Sowohl die lutherische als auch die calvinistische Reformation boten irrationale Rechtfertigungstheorien unbeschränkter souveräner Gewalt dar und gehörten durchaus nicht, wie gemeinhin angenommen wird, zu den Bewegungen, die das Zeitalter des Liberalismus, der natürlichen Rechte, der Gleichheit und des Rationalismus einleiteten. In der Epoche der Religionskriege und Volkserhebungen hatte die aufsteigende Mittelklasse Ruhe und Frieden bitter nötig; Handelsherren und Industrielle verlangten nach Gleichstellung mit dem Klerus und dem Adel. Als Folge davon wurde eine zentrale weltliche Obrigkeit errichtet, deren souveräne Gewalt als die einer Institution gerechtfertigt wurde, der die Menschen nicht nur äußerlichen Gehorsam, sondern aufrichtige innerliche Ergebenheit schuldeten. Die charismatische Rechtfertigung der bestehenden Obrigkeit fand so am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft ihren Platz; heute, in den Wehen ihrer schwersten und tiefsten Krise, ist die europäische Gesellschaft zu ihren frühesten theoretischen Anschauungen zurückgekehrt.
Die Puritaner der frühen Tudor-Ära bedienten sich aller Arten von Rechtfertigung der königlichen Autorität – der Heiligen Schrift, des göttlichen Naturrechts, der Staatsräson. Sie wiesen in feierlicher Mahnung auf das schreckliche Schicksal der revolutionären und chiliastischen Bewegungen des