Behemoth. Franz Neumann
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Das genaue Verhältnis von Staat und Bewegung bleibt freilich ungewiß. Obwohl unlösbar mit dem Staat verbunden, ist die Partei nicht identisch mit ihm. Sie gibt dem Staat Anweisungen, handelt aber nur durch ihren Führer. Führertum seinerseits darf nicht mit Oberaufsicht, Befehlsgewalt, Diktatur oder bürokratischer Herrschaft verwechselt werden. Die Rolle, die das Volk dabei zu spielen hat, ist noch unklarer. Per definitionem ist das Volk der unpolitische Teil, das heißt, es hat keinen Einfluß auf das Zustandekommen politischer Entscheidungen. Doch wurde dieser Teil der Schmittschen These nicht akzeptiert; denn seine eindeutige Folgerung, das Volk sei nur dazu da, regiert zu werden, löste leidenschaftliche Proteste aus. Schmitt wurde entgegengehalten, daß das Volk nicht unpolitisch, sondern politisch ist, daß es die Urkraft ist, von der alle Individuen ihre Recht herleiten. »Die politische Totalität des Nationalsozialismus ist gegründet auf eine alldurchdringende politische Idee, getragen von einem in sich geschlossenen politischen Volk, verwirklicht durch eine einzigartige politische Bewegung, und sie erhält Gestalt in der lebendigen, dauernden Form des Staates.«8
Wie wir sehen werden, ist der Nationalsozialismus stolz darauf, das Volk in den Mittelpunkt seiner sozialen und politischen Ideologie gestellt zu haben. Carl Schmitts Dreigliederungstheorie wurde mit einer bezeichnenden Korrektur beibehalten: das Volk wurde zum Bestandteil der politischen Struktur erklärt. Wie das Volk politisch handeln könne, ist nicht dargelegt worden; lediglich die Führung der »Bewegung« wurde berücksichtigt.
Unzählige Theoretiker und Pamphletisten traten hervor und nannten das Volk den Urquell des Staates, aber keiner von ihnen war in der Lage anzugeben, was das Volk als solches leisten könne, zumal der Führer nicht an Plebiszite gebunden ist. An die Stelle jeder rationalen Diskussion des Problems trat schlechte Metaphysik.
3. Partei und Staat
Die Aussagen der nationalsozialistischen politischen Theorie zum Verhältnis von Partei und Staat sind gleichermaßen vage. In seiner Rede auf dem Parteitag von 1935 versuchte Hitler persönlich eine Definition: »Staatsaufgabe«, so sagte er, »ist die Fortführung der historisch gewordenen und entwickelten Verwaltung der staatlichen Organisationen im Rahmen und mittels der Gesetze. Parteiaufgabe ist: 1. Aufbau ihrer inneren Organisation zur Herstellung einer stabilen, sich selbst forterhaltenden ewigen Zelle der nationalsozialistischen Lehre. 2. Die Erziehung des gesamten Volkes im Sinne der Gedanken dieser Idee. 3. Die Abstellung der Erzogenen an den Staat zu seiner Führung und als seine Gefolgschaft. Im übrigen gilt das Prinzip der Respektierung und Einhaltung der beiderseitigen Kompetenzen.«9 Damit sind wir genau da, wo wir vorher waren, denn es ging ja gerade darum, präzise zu definieren, wo die Kompetenz des Staates endet und die der Partei beginnt.
Einparteistaaten weisen drei Typen des Verhältnisses von Partei und Staat auf. In Italien ist die Partei in den Staat »eingegliedert«; sie ist ein Organ des Staates, eine »Staatspartei«. Sowjetrußland gibt der Partei volle Befehlsgewalt über den Staat; die periodischen Säuberungen zielen zu einem beträchtlichen Teil darauf ab, die Anhäufung autonomer politischer Macht in den Händen der Staatsbürokratie zu verhindern. Der deutsche Typ liegt etwa in der Mitte zwischen den beiden anderen und ist schwer zu analysieren. Die Analyse muß aber geleistet werden – nicht so sehr, um die Neugier von Verfassungs- und Verwaltungsrechtlern zu befriedigen, sondern um die Grundprobleme: bei wem liegt die politische Macht, und wie stark haben die nationalsozialistischen Ideen Armee und Beamtentum durchdrungen, zu klären.10
Beginnen wir unser Bemühen um Klärung mit einer Analyse der einschlägigen Praxis in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Die verfassungsrechtliche Grundlage des Verhältnisses Partei-Staat ist das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« vom 1. Dezember 1933, das seine Ergänzung in der Führerverordnung vom 29. März 1935 findet. Diesem Gesetz zufolge ist die Partei »die Trägerin des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staat unlöslich verbunden«. Sie wurde zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gemacht, ihr Statut ist vom Führer zu erlassen. Zur organisatorischen Zementierung dieser Einheit wurden Heß, der Stellvertreter des Führers, und Röhm, damals Chef der Braunhemden, zu Mitgliedern der Reichsregierung ernannt. Dasselbe Gesetz unterstellte die Mitglieder der NSDAP und die Braunhemden einer besonderen Partei- und SA-Gerichtsbarkeit. Das Einheitsgesetz war der logische Schlußpunkt unter alle jene Gesetzesmaßnahmen, die die konkurrierenden politischen Parteien zerschlagen hatten: die polizeilichen Bestimmungen der Notverordnung des Reichspräsidenten vom 28. Februar 1933; das Gesetz vom 26. Mai 1933 zur Beschlagnahmung des sozialdemokratischen Vermögens; die vom preußischen Innenminister am 23. Juni 1933 unterzeichnete Verordnung, die sämtliche Aktivitäten der Sozialdemokratischen Partei, ihrer Vertreter im Reichstag, in den Landtagen, in den Bezirks-, Kreis- und Gemeindevertretungen verbot; das Verbot der nationalistischen Kampfringe (1. Juni 1933) ; die freiwillige Auflösung der Deutschnationalen Volkspartei (27. Juni 1933), der Bayrischen Volkspartei (4. Juli 1933) und der katholischen Zentrumspartei (5. Juli 1933). Alle diese Maßnahmen kulminierten in dem Gesetz vom 14. Juli 1933, das die Neubildung von Parteien verbot und jeden Versuch der Wiederbelebung oder Neugründung einer anderen als der Nationalsozialistischen Partei mit Zuchthaus oder Gefängnis bedrohte.
Wörtlich genommen unterscheidet sich das Gesetz kaum von dem italienischen Gesetz von 1932, welches das Verhältnis zwischen der National-Faschistischen Partei und dem italienischen Staat regelt. Es stellt die Partei nicht über andere öffentliche Körperschaften wie Kirchen, Gemeinderäte oder Behörden, die Krankenversicherungsgelder verwalten. Nach deutschem Staatsrecht ist die öffentliche Körperschaft nur eine bedingt freie Einrichtung. Es gibt ihm zufolge keiner Körperschaft des öffentlichen Rechts, die nicht vom Staat beaufsichtigt wird.11 Ihre Aufgaben sind gesetzlich eindeutig festgelegt, das Maß ihrer Autorität ist streng begrenzt, und ihre Tätigkeit unterliegt der Kontrolle von Verwaltungsgerichten und anderen Behörden. Faktisch besitzen Körperschaften des öffentlichen Rechts im modernen Staat keine generelle Unabhängigkeit. Jede einzelne bezieht ihre Macht als vom Staat delegierte; einige Theoretiker hat diese Tatsache ganz folgerichtig dazu veranlaßt, den Begriff der Unabhängigkeit als mit dem Rechtssystem des modernen Staates unvereinbar abzulehnen. Wenn wir die Partei als öffentlich-rechtliche Körperschaft beschreiben, heißt dies, daß Aufgaben und Autorität der Partei gesetzlich umrissen sind, und daß ihre Aktivitäten vom Staat überwacht werden. Die Partei stünde demnach auf derselben Ebene wie jede andere relativ unabhängige staatliche Institution.
Derlei Erwägungen schienen indes nicht mit der Behauptung, die »Bewegung« repräsentiere und führe den Staat, übereinzustimmen. Folglich wich die Verfassungs- und Rechtstheorie (und -praxis) von dem Wortlaut des Einheitsgesetzes von 1933 ab und formulierte es so um, daß die Partei völlig unabhängig vom Staat wurde und sogar über ihm stand.12 Die tatsächliche Entwicklung des Verhältnisses von Partei und Staat zeigt an, daß der Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts hier nicht anwendbar ist. Die Partei wirkt nicht nur in Sachen Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz mit, sondern sie nimmt eine dem Staate übergeordnete Stellung ein. Das gilt ganz besonders für die SS und die Hitlerjugend.
4. SS und Hitlerjugend
Die SS, der »Eliteorden«, ist eine Polizei und folglich der Staat in seiner wichtigsten innenpolitischen Funktion. Sie dient als Schutzpolizei und stellt Personal für die Geheime Staatspolizei. Seit ihrer Gründung im Jahre 1925 und ihrer Erweiterung 1929 bildet die SS eine geschlossene Gruppe, die nach ihren eigenen Gesetzen lebt. Die Auswahl ihrer Mitglieder erfolgt primär nach biologischen Prinzipien, wie sie der »Saatzüchter« anwendet; der Zweck ist »die Auswahl derjenigen, die körperlich dem Wunschbild, dem nordisch-bestimmten Menschen nahekommen«.13 Die