Behemoth. Franz Neumann
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Der Reichstag, so wie er heute noch besteht, zusammengesetzt aus Funktionären der NSDAP, ist ein bloßes Dekorationsstück. Fritz Thyssen, seinerzeit selbst Mitglied jenes erlauchten Gremiums, berichtete nach seiner Flucht aus Deutschland,28 daß bei der Reichstagssitzung am 1. September 1939 (der Kriegssitzung) nur hundert Parlamentsmitglieder anwesend waren, während die übrigen Sitze einfach mit irgendwelchen Parteisekretären besetzt wurden.
Die Reichsregierung wurde zum normalen Gesetzgeber. Diese Aufhebung der Trennung von legislativen und administrativen Funktionen – eine charakteristische Entwicklung in nahezu allen modernen Staaten – bedeutet, daß die politische Macht nicht mehr unter verschiedene Gesellschaftsschichten aufgeteilt ist, und die Minderheiten nicht mehr gegen Gesetzesvorschläge opponieren können.29 Die Staatsgewalt ist nicht nur einheitlich, sondern sie ist absolut. (Einheitlich ist sie selbstverständlich auch in der liberalen Demokratie, denn Gewaltenteilung heißt nicht, daß es drei verschiedene Gewalten gibt. Genauer wäre, von getrennten und unterschiedlichen Funktionen statt von Gewalten zu sprechen.)
Das Ermächtigungsgesetz stellt eine überaus radikale Abkehr von den Prinzipien des liberalen Verfassungsstaates dar, von dem System von Normen und Gewohnheiten, das die gesetzgebende Gewalt des Staates beschränkt. Ein Schreiber formulierte dies so: »Damit hat die Reichsregierung die Führergewalt in Deutschland erhalten; sie hat unter der Führung Adolf Hitlers die weitaus größte politische Macht.«30
Die Geschichte des Ermächtigungsgesetzes straft die Behauptung der Nationalsozialisten Lügen, sie seien mit verfassungsmäßigen Mitteln zur Macht gekommen. Das Gesetz wurde zwar mit 441 gegen 94 Stimmen angenommen und bekam damit die erforderliche Zweidrittelmehrheit der anwesenden Reichstagsmitglieder (Artikel 76 der Weimarer Verfassung). Aber die Sitzung fand in einer Atmosphäre des Terrors statt. Die 81 kommunistischen Abgeordneten und zahlreiche Sozialdemokraten waren zuvor willkürlich verhaftet worden und folglich nicht anwesend (die anwesenden Sozialdemokraten stimmten gegen die Vorlage). Hätten die Zentrumsabgeordneten nicht kapituliert und die Gesetzesvorlage nicht unterstützt, dann wäre zweifellos auch gegen sie die Terrorherrschaft entfesselt worden.
Überdies sah Artikel 5 vor, daß das Ermächtigungsgesetz außer Kraft treten sollte, »wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere abgelöst wird«. Die Umstände, die diese von Hindenburg geforderte Vorschrift begleiteten, sind bezeichnend. Die Welt hat vergessen, daß in dieser ersten Hitler-Regierung, die am 31. Januar 1933 die Macht antrat, nur drei von zwölf Kabinettsmitgliedern Nationalsozialisten waren. (Tatsächlich war diese Regierung eine Neuauflage der Harzburger Front vom Oktober 1931, die Hitler und Hugenberg mit dem Segen Schachts organisiert hatten, um eine »nationale« Opposition gegen das Kabinett Brüning zu schmieden.)31 Hindenburg bestand deshalb auf dem Artikel 5, weil er die Mehrheit seiner reaktionären Freunde in der neuen Regierung der »nationalen Konzentration« und ganz besonders drei von ihnen (Vizekanzler von Papen, Wirtschaftsminister Hugenberg und Arbeitskommissar Gerecke) schützen wollte. Mit anderen Worten, das Ermächtigungsgesetz gab der Regierung in ihrer damaligen Zusammensetzung und keiner anderen volle Gesetzgebungsgewalt.
Hugenberg trat bald als Reichswirtschaftsminister zurück; Gerecke wurde wegen Unterschlagung verhaftet; der Nazi Darré zum Landwirtschaftsminister bestellt, und der Stellvertreter des Führers, Heß, begann an den Kabinettssitzungen teilzunehmen, obwohl er kein Mitglied der Regierung war. Rechtlich hätte damit das Ermächtigungsgesetz auslaufen müssen. Es erübrigt sich zu sagen, daß in Wirklichkeit nichts dergleichen geschah. So verteidigte denn ein Verfassungsrechtler, ein hoher Beamter im Reichsinnenministerium, die Beibehaltung des Gesetzes: »Es hieße die Bedeutung des großen Ereignisses der nationalen Konzentration verkleinern, wenn man in eine Untersuchung der Frage eintreten sollte, welcher Tatbestand hiernach das vorzeitige Ende des vereinfachten Gesetzgebungswegs bedeuten würde, ob etwa bereits der Ersatz der einen oder anderen Persönlichkeit im Kabinett oder eine andere politische Zusammensetzung der Reichsregierung diesen Tatbestand erfüllen würde.«32 Ein anderer, weniger zurückhaltender Kommentator behauptete, daß das Gesetz seine Gültigkeit behalte, weil die NSDAP schon immer eine Mehrheit im Kabinett besessen habe.33 Das war eine handfeste Lüge.
Wegen des offenkundigen Verstoßes gegen Artikel 5 ziehen die politischen Theoretiker und Rechtsgelehrten des Nationalsozialismus es vor, vom Ermächtigungsgesetz als »dem Grundstein einer neuen Verfassung« zu sprechen. Es nach alledem als Ermächtigungsgesetz zu bezeichnen, wäre gleichbedeutend damit, seine Wurzeln in der verachteten Weimarer Verfassung anzuerkennen. Von einer außerordentlichen Delegierung verfassungsmäßiger Gewalt, folglich einer Maßregel, deren Gültigkeit nach Maßgabe der Verfassung beurteilt werden muß, wandelten sie das Ermächtigungsgesetz zum »Reichsführungsgesetz« um. Als solches bezeichnet es das Ende der Weimarer Republik und den Anfang des nationalsozialistischen Systems.34
In jedem Fall geht es dem Nationalsozialismus nicht um die rechtliche Übereinstimmung mit dem herrschenden Verfassungssystem. An seine Stelle setzt er den Anspruch der »Legitimität«.35 Ein System ist »legitim«, wenn es eine innere Existenzberechtigung hat, in diesem Fall den Erfolg der nationalsozialistischen Revolution. Mit anderen Worten, die Rechtmäßigkeit der neuen Verfassung liegt in ihrem Erfolg – ein Argument, das weder neu noch überzeugend ist.
Der Verstoß gegen Artikel 5 war freilich nicht die einzige Verletzung des Ermächtigungsgesetzes. Wie wir gesehen haben, schützte das Gesetz scheinbar die parlamentarischen Institutionen sowie den Reichsrat und versprach, die Rechte des Reichspräsidenten zu garantieren. Kaum zwei Jahre später wurde der Reichsrat jedoch abgeschafft (Gesetz vom 14. Februar 1934), und das Amt des Reichspräsidenten wurde unmittelbar nach Hindenburgs Tod am 1. August 1934 mit dem des Reichskanzlers zusammengelegt. Die Rechtfertigung dieser Ämterverschmelzung erfolgte unter Hinweis auf Hindenburgs Testament, in welchem er Hitler angeblich zu seinem Nachfolger bestimmte, und durch die 89,9% Ja-Stimmen bei der Volksabstimmung vom 19. August. Die Volksabstimmung hatte selbst nach Ansicht nationalsozialistischer Theorien keinen verfassungsmäßigen Status, sondern allenfalls moralische Bedeutung. Die Weimarer Verfassung unterschied zwischen Volksentscheid und Volksbegehren. Bei ersterem sollte das Volk in Gesetzgebungskonflikten zwischen Präsident und Parlament als Schiedsrichter auftreten – eine Situation, die in der Praxis nie vorgekommen ist. Auf der anderen Seite gab das Volksbegehren politischen Gruppen die Gelegenheit, entweder eine Gesetzgebung zu erzwingen, oder eine parlamentarische Verabschiedung zu verhindern. In der ganzen Geschichte der Weimarer Republik hat es drei Fälle gegeben, in denen ein Volksbegehren versucht wurde: die von der Linken ausgehende Initiative zur Konfiszierung des Eigentums der Fürstenhäuser, die Initiative der Kommunisten gegen den Bau von Schlachtschiffen und die von den Reaktionären ausgehende Initiative gegen den Young-Plan. Sie blieben erfolglos, und das konnte angesichts der vollständigen Organisation des öffentlichen Lebens und der Rigidität des Parteiensystems auch gar nicht anders sein.
Dennoch war das Volksbegehren ein potentielles Instrument zur Korrektur des erstarrten politischen und parlamentarischen Lebens. Das von den Kommunisten initiierte Volksbegehren zur Enteignung der Fürstenhäuser rüttelte, trotz seines Scheiterns, die sozialistischen Massen so auf, daß die sozialdemokratische Parteiführung gezwungen war, ihren Kurs zu ändern und die Volksbewegung anzuführen.
Im Gegensatz zu den republikanischen Formen ist das nationalsozialistische Gesetz über Volksabstimmung vom 14. Juli 1933 mehr eine Sache der Propaganda als des Verfassungsrechts. Dieses Gesetz gibt der Reichsregierung das alleinige Recht, dem Volk eine beabsichtigte Maßnahme zur