Behemoth. Franz Neumann
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Und doch hat jeder Mensch den Keim der Vernunft in sich; das unterscheidet ihn von den Tieren. Nach dem Fall wäre die Menschheit verloren gewesen, hätte nicht Gott uns einen geringen Rest von Vernunft belassen, den wir als »Gottes allgemeine Gnade« bezeichnen können.25 Wie kann nun diese reifen und wachsen? Nicht durch die menschliche Verstandestätigkeit – so viel ist gewiß – sondern einzig und allein durch die besondere Gnadenwahl Gottes. Die allgemeine Gnade, welche potentiell alle Menschen gleich umfaßt, wird nur dadurch gegenwärtig, daß Gott Menschen für besondere Positionen erwählt. Calvin führt uns hier zu unserer Geburt zurück, um uns zu zeigen, daß die Vernunft, die wir besitzen, ein Geschenk Gottes und nicht ein natürlicher Besitz sei. »Wenn der Säugling den Schoß seiner Mutter verläßt, welchen Verstand hat er dann? … Ein Kind ist geringer als das ärmste Tier … Wie kommt es, daß wir den Geist des Verstandes besitzen, wenn wir mündig werden? Es muß so sein, daß Gott ihn uns gibt.«26 Die Gnadenwahl ist nicht eine Belohnung für ein frommes Leben oder für gute Werke; sie kann sogar einem Heiden zuteil werden.27 Wenn auch Gottes Wege unerforschlich sind, folgen sie doch nicht einem zufälligem Kurs – alles ist unergründlich vorherbestimmt, von Gott gewollt.
Woran aber können die Menschen erkennen, ob ihre Mitmenschen mit Gottes Gnade begabt sind? Die Antwort heißt: an ihrem Erfolg. Der Herrscher, der Magistrat, der erfolgreiche Geschäftsmann, politische Führer, Rechtsgelehrte, Arzt, Vorarbeiter, Sklavenhalter – sie alle verdanken ihre Stellung der göttlichen Gnade. Deshalb schuldet man ihnen Gehorsam. Das Charisma fließt allen jenen zu, die Macht haben, in jedem Bereich des Lebens, jedem Beruf und Stand.
Die politische und gesellschaftliche Theorie folgt logisch aus den theologischen Prämissen, wobei das Ganze die radikalste Abkehr von der scholastischen Auffassung darstellt. Es kann keine Maxime, kein Naturrecht geben, das irgendjemanden bindet. Wenn das Gewissen der Menschen verderbt ist, dann ist es auch das Naturrecht, und Gottes Gerechtigkeit kann nicht in ihm erkannt werden. »Wäre er (der Mensch) im Zustand der natürlichen Unversehrtheit geblieben, so wie Gott ihn schuf … dann würde jeder das Gesetz in seinem Herzen tragen, so daß es keinen Zwang gäbe … Jeder würde seine Regeln kennen und … dem Guten und Rechten folgen.«28 Aber Gewissen und Naturrecht können uns nicht lehren, wie wir uns zu verhalten haben. Das Naturrecht ist nicht das gestaltende Prinzip des Staates, der weder eine natürliche Einrichtung noch das Produkt menschlicher Bedürfnisse ist. Der Staat ist eine Zwangsinstitution, die zur Natur des Menschen in Widerspruch steht.29 Er ist von Gott geschaffen und Teil seines Planes, uns von unserer Verderbtheit zu erretten. »Da die natürliche Ordnung verderbt ist, ist es nötig, daß Gott … uns zeigt ..., daß wir zur Freiheit nicht fähig sind, daß wir in einem Zustand der Unterwerfung gehalten werden müssen.«30 So bricht Calvin mit der Aristotelischen und Thomistischen Tradition und wirft sich in die Arme des politischen Augustinianismus, indem er »das göttliche Recht der bestehenden Ordnung«31 errichtet.
Die Heiligkeit erstreckt sich nicht nur auf den Staat als solchen (wie Luther behauptete), sondern auf alle Personen in der Hierarchie des Staates, die an der Ausübung seiner Macht teilhaben. Zwischen dem Träger der Souveränität und seinen ausführenden Organen wird keine Unterscheidung getroffen. Wir schulden unseren Oberen unbedingten Gehorsam nicht nur als Pflicht vor den Menschen, sondern vor Gott, und über den Gehorsam hinaus schulden wir Demut und Ehrerbietung. Wer nicht gehorcht, zieht sich nicht nur die Strenge des irdischen Gesetzes, sondern den Zorn Gottes zu. Gehorsam und Ehrerbietung gegenüber der Obrigkeit sind nicht aus Zwang, sondern aus freiem Willen gefordert. Der mittelalterliche Begriff des Herrschaftsvertrages wird implizit und explizit zurückgewiesen. Nach Calvin ist es aufrührerisch, einen König nach seinen Verpflichtungen oder Diensten gegenüber dem Volk zu beurteilen, denn der König ist niemandem außer Gott verpflichtet. Calvin spricht zuweilen von einer »gegenseitigen Verpflichtung« von König und Volk, aber er versteht darunter niemals einen Vertrag; die Pflichten, die Gott dem Herrscher und dem Volk auferlegt, sind niemals gegenseitige.
Jegliche institutionelle Beschränkung der Macht des Herrschers ist selbstverständlich mit einer solchen Auffassung unvereinbar. Das heißt nicht, daß Calvin sich für Tyrannei und Despotismus einsetzte oder sie verteidigte – im Gegenteil ermahnte er die Herrscher, sich gegen Selbstgefälligkeit zu wappnen und ihre Pflichten in einem wohltätigen Geiste zu erfüllen. Andernfalls werde sie der Zorn Gottes treffen.32
Historiker mit politischem Verstand machten viel Aufhebens von Calvins Äußerung, daß die Volksbehörden sich dem König widersetzen könnten, wenn sie verfassungsmäßig dazu ermächtigt sind: »Anders steht die Sache, wo Volksbehörden eingesetzt sind, um die Willkür der Könige zu mäßigen; von dieser Art waren z. B. … die Volkstribunen, die den römischen Konsuln … gegenübergestellt waren; diese Gewalt besitzen, wie die Dinge heute liegen, vielleicht auch die drei Stände in den einzelnen Königreichen, wenn sie ihre wichtigsten Versammlungen halten. Wo das also so ist, da verbiete ich diesen Männern nicht etwa, der wilden Ungebundenheit der Könige pflichtgemäß entgegenzutreten, nein, ich behaupte geradezu: wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen … verraten sie … die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie … durch Gottes Anordnung eingesetzt sind!«33 Dieser kurze Absatz, dem große Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, ist entweder als ein Relikt der mittelalterlichen Naturrechtslehre oder als Beginn der demokratischen Ideologie angesehen worden. Diese Interpretation ist vollkommen ungerechtfertigt und widerspricht dem Geist des gesamten Calvinschen Werkes. Sie ist aufgekommen, weil französische Hugenotten wie Francis Hotman und Du Plessis Mornay pseudorevolutionäre Königsmörderlehren auf der Grundlage der Calvinistischen Theorie propagierten. Die Schriften dieser Monarchomachen sollten jedoch nicht als Grundlage für eine solche Interpretation verwendet werden. Einmal war Calvin für ihre Lehren nicht direkt verantwortlich, zum anderen waren sie keine Revolutionäre in irgendeinem Sinne des Begriffs, sondern Opportunisten, die jedes juristische und theoretische Argument zur Bekämpfung des Königs und der Katholischen Liga benutzten. Calvins oben zitierte Äußerung ist konservativ: sie leugnet das Widerstandsrecht des Individuums und beschreibt die aktuelle Lage in Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern, in denen die Stände die königliche Macht beschnitten.34 Calvin besteht darauf, daß dort, wo solche Machtbefugnisse existieren, sie nicht aufgegeben werden dürfen, weil sie genau so Ausfluß der göttlichen Gnade seien wie die Macht des Königs.
Dasselbe Kapitel der »Institutio« spricht von einem anderen Mittel der Befreiung von drückender Last, und diese Passage ist für Calvins Theorie viel charakteristischer als seine Äußerung zu den Rechten der Stände. Ihr ist wenig Beachtung geschenkt worden. Gott, sagt Calvin dort, kann seinem Volk einen auserwählten Erretter senden. »Hier offenbart sich nun Gottes wunderbare Güte, Macht und Vorsehung. Denn bald erweckt er aus seinen Knechten öffentliche Erretter und rüstet sie mit seinem Auftrag aus, um eine mit Schandtaten beladene Herrschaft zur Strafe zu ziehen und das auf manch ungerechte Weise unterdrückte Volk aus seiner elenden Qual zu befreien.«35 Freilich soll das Volk nicht zu leichtgläubig sein, wenn ein solcher Erretter kommt. Hier wird der charismatische Führer angekündigt, der Mann, der im Namen der göttlichen Vorsehung bevollmächtigt ist, die Regierung zu stürzen und das Volk zu befreien.
3. Die wundertätigen Könige
An der Wiege des modernen Kapitalismus, der angeblich ein System der Rationalität, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit eingeführt hat, steht diese Gesellschaftslehre, die in jeder Hinsicht das Gegenteil des Rationalismus ist, wenn sie auch gewisse psychologische Bedürfnisse des Volkes befriedigt, die älter