Methoden der Theaterwissenschaft. Группа авторов

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Methoden der Theaterwissenschaft - Группа авторов Forum Modernes Theater

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Rolle des Archivs als Ort der Verhandlung von Gedächtnis und Geschichte deutlich gemacht.19 Auch im Bereich von Tanz und Performance wird an unkonventionellen Formen der Archivierung gearbeitet, die jedoch in der vor allem medientheoretisch orientierten Debatte noch zu wenig wahrgenommen werden. Wie schon eingangs bemerkt ist die in den szenischen Künsten bis heute manifestierte kulturelle und gesellschaftliche Praxis in besonderem Maße zeitlich strukturiert, an flüchtige Momente der Aufführung und der kollektiven Rezeption gebunden. Die damit verbundenen spezifischen Potenziale sind durch Techniken der Notation und auch der audiovisuellen Dokumentation nur sehr partiell zu bewahren, bedürfen zugleich der wissenschaftlichen Forschung und der ständigen künstlerischen Aktualisierung. Eine besondere Rolle spielt dabei eben die Verknüpfung und Interpretation von Erfahrungen, die an körperliche Eindrücke und Sinneswahrnehmungen gebunden sind und über die faktischen Ereignisse einer Aufführung weit hinausgehen. So finden etwa Formen der Selbstarchivierung und der Übernahme archivarischer Methoden, wie sie seit den 1960er Jahren vor allem in der Bildenden Kunst entwickelt wurden, zunehmend auch in der aktuellen Praxis der darstellenden, performativen und schauspielerischen Künste Anwendung, wie sich besonders an den mehr oder weniger detailgetreuen Re-enactments ‚einmaliger‘ Ereignisse zeigt.20

      Andererseits ist immer häufiger zu beobachten, dass auch schon das Archivieren von Probenprozessen die Struktur künstlerischer Arbeit beeinflussen kann, wenn die dabei gemachten Erfahrungen reflektiert und in neue technische Konzepte überführt werden. Paradigmatisch dafür war das von dem Choreographen William Forsythe auf der Basis seiner Improvisation Technologies mitentwickelte Visualisierungsprogramm Synchronous Objects (ab 2010), das nicht zuletzt dazu diente, die Tänzer*innen stärker eigenverantwortlich in choreographische Prozesse einzubinden.21 Wenn nicht nur das individuelle (Selbst)Archivieren, sondern viel mehr noch die kollektive Nutzung und Weiterentwicklung des neu generierten Wissens zum konstitutiven Bestandteil künstlerischer Arbeit wird, stellt sich die Frage, inwieweit solche Tendenzen auf die Organisation der Archive zurückwirken. Auch von dieser Seite her können sie sich, wie Beatrice von Bismarck es mit Blick auf Archive der Bildenden Künste formuliert hat, als „Speicher des Möglichen und Zukünftigen“ erweisen.22

      Anwendungsfelder: Archiv/Praxis

      Wie nun könnte eine theater- und tanzwissenschaftliche Methodik aussehen, die sich bewusst ins Verhältnis setzt zu den besonderen Wissensformen und -dynamiken, die mit dem Begriff und der Metapher des Archivs benannt werden? Archive eröffnen mit der Vielfalt der in ihnen gesammelten Quellen immer wieder den Rückbezug auf Anfänge, Voraussetzungen, Entscheidungen, und damit auch das Feld einer nach möglichen Ereignissen fragenden, mitunter spekulativen Historiographie.1 Sie enthalten gleichsam Rohstoffe von Geschichtsschreibung, nicht deren Resultate. Dokumente werden in historischen Archiven ja vor allem „um der Möglichkeit, eine Geschichtsquelle zu sein“ bewahrt,2 und eben nicht als schon restlos gedeutete Monumente. Daher wäre Foucaults Archäologie des Wissens weiterzudenken auch im Sinne einer methodisch reflektierten Infragestellung vermeintlich gesicherter, jedenfalls immer wieder nacherzählter Hypothesen. Für die Theatergeschichte ist es, wie von Andreas Kotte bemerkt, beispielsweise keine unwichtige Frage, wer wann und warum die Behauptung von griechischen Ursprüngen des europäischen Theaters propagiert hat.3 Aus der Perspektive des Archivs stellt sich die Frage nach den immer wieder beschworenen „griechischen Anfängen“ aber auch umgekehrt: Was bedeutet es für das Verständnis von Archiven, dass als eines der frühesten erhaltenen Archive der griechischen Kultur ausgerechnet die Didaskalien gelten können, die Listen der Gewinner von Theaterwettbewerben (Dichter, Schauspieler, Choregen)? Warum wurden diese von Aristoteles und seinen Schülern wohl zu Lehrzwecken erstellten Siegerlisten nachträglich auch in Stein gemeißelt? In welchem Verhältnis steht diese buchstäbliche Monumentalisierung der pädagogischen Dokumente zu der über ein Jahrhundert früheren großen Zeit der Theateragone und zu deren herausgehobener Bedeutung für die demokratische Öffentlichkeit der Stadtgesellschaft?

      Theo Girshausen hat auf diese Fragen in seiner Studie zu den „Ursprungszeiten des Theaters“, unter dem konkreteren Titel Das Theater der Antike, eine Reihe von Antworten gegeben, die im Hinblick auf mögliche Wechselwirkungen zwischen der Struktur von Archiven und den Methoden der Theaterwissenschaft erhellend sind. So deutet er die Herstellung der Monumente, durchaus im Sinne Foucaults, als eine eigene Form der Geschichtsschreibung, basierend allein auf Jahreszahlen und Namen. Der Sinn ihrer Zusammenstellung liege einerseits in einem politischen Motiv, den zur Zeit des Lykurg ausgeprägten Bemühungen, die Traditionen des klassischen Athen wieder aufleben zu lassen und die kulturelle Einheit Athens in einer Zeit des außenpolitischen Bedeutungsverlusts zu stärken. Dazu käme als ‚wissenschaftliches‘ Motiv eine auch sonst für die griechische Geschichtsschreibung zu beobachtende Beglaubigung der mythischen Vorgeschichte(n) der Stadt, in diesem Fall durch den linearen Zusammenhang von Aufführungs- und Festdaten.4 Die Art und Weise, in der diese Siegerlisten auch von Aristoteles selbst für seine Poetik genutzt wurden, in der er wiederum eine bestimmte Erzählung vom Ursprung des Theaters gibt, dient Girshausen als Beleg für die Grundannahme seiner Untersuchung, dass alles Wissen über antikes Theater schon Teil einer Wirkungs- und Vermittlungsgeschichte ist, die eine seit der Renaissance zentrale und normativ gedeutete Funktion für die Selbstbegründung europäischer Kultur produziert hat.5 In der Antike habe es zwar keine dem heutigen Verständnis von Quellenkritik vergleichbaren Methoden gegeben, gleichwohl die Tendenz, für die Abgrenzung im weiteren Sinne kulturgeschichtlicher Erzählungen von unglaubwürdig gewordenen Mythen auch auf die Struktur von bloßen Chronologien zurückzugreifen. Gerade an diesem für die Historiographie des antiken Theaters entscheidenden Punkt verdeutlicht Girshausen zugleich den phantasmatischen Charakter aller späteren Ursprungserzählungen des Theaters, indem er auf die eigentliche Problematik der monumentalisierten Listen verweist: das krasse Missverhältnis zwischen den Namen vieler Dichter und tausenden Titeln von siegreichen Stücken und den nur wenige Prozent davon erreichenden, erhaltenen Werken von bloß drei Tragödien- und zwei Komödiendichtern. Demnach enthält das Archiv der Didaskalien eigentlich vor allem die verlorenen Bestände, verweist auf eine „Leerstelle der Überlieferung“.6 Die späteren Versuche, diese Lücken zu füllen und insbesondere den Ursprung des Theaters zu konstruieren, hätten das Wissen über die wirklichen Entstehungszusammenhänge des griechischen Theaters nur punktuell und fragmentarisch erweitern können, sich in der Entwicklung vielfältiger neuer Theaterformen jedoch als höchst produktiv erwiesen.7

      Das Beispiel manifestiert exemplarisch das Spannungsverhältnis zwischen den mehr oder weniger bewussten Absichten theaterhistoriographischer Forschung und andererseits den in Archiven enthaltenen Spuren und Resten einer selbst immer schon von Wirkungsabsichten geprägten kulturellen Überlieferung. Damit verdeutlicht es einmal mehr die Notwendigkeit, den linearen Interpretationen und ‚großen Erzählungen‘ der Geschichtsschreibung entgegen nach konkreten szenischen und theatralen Praktiken zu fragen. Paradoxerweise sind Archive für die Forschung gerade im Fehlen von Beweisen, im Mangel an Evidenz, und in der Lückenhaftigkeit aller Überlieferung nach wie vor notwendige Orte der Aporie, der immer neu zu machenden Erfahrung, dass die Quellen etwas ganz anderes sagen (können), als das was die Geschichtsschreibung von ihnen hören will. Exemplarisch dafür wären, wie Kotte gezeigt hat, auch die in Archiven mitunter auftauchenden Zeugnisse für Theaterformen und -diskurse, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, zumindest nicht nach den etablierten Vorstellungen über ein „Theatervakuum“ zwischen dem 6. und dem 10. Jahrhundert, aus dem dann erst die christliche Osterfeier einen neuen ‚Ursprung‘ von Theater hervorgebracht hätte.8

      Mit diesen und ähnlichen Widersprüchen erweist sich auch ein elementares Problem der methodischen Bestimmung von Theaterwissenschaft, nämlich das Verhältnis von Spieltexten und Aufführungspraxis, als eine Frage des Archivs und seiner vielfältigen Funktionen. Die mitunter dem Archiv zugeschriebene Aufgabe, tradierte Stücke von den Einflüssen aktueller Aufführungen zu bewahren,9 sollte nicht verdecken, dass die Texte selbst eine Vielzahl theaterhistorischer Informationen über die jeweilige Aufführungspraxis enthalten, in deren Kontext sie entstanden sind, basierend auf Konventionen, die von den Autoren mit geprägt wurden oder schon vorausgesetzt werden konnten.10 Um die Texte aber heute noch

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