Front ohne Helden. Franz Taut

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Front ohne Helden - Franz Taut Zeitzeugen

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Cornalli kippte den Cognac, der ihm angeboten wurde. Dann meldete er sich ab. Talvern schloss sich ihm an. Eine lange Nacht stand ihm bevor. Noch war alles still. Aber Talvern hatte es im Gespür, dass die ohnehin verdächtige Stille nicht mehr lange anhalten würde.

      Am Vormittag dieses 15. Dezember war die dritte schwere Batterie der ersten Abteilung des Artillerieregiments 786 in Lysselkowo eingerückt, zweiundzwanzig Kilometer vom Divisionsgefechtsstand entfernt.

      Hauptmann Martin, der Batteriechef, war bei seinen Männern beliebt. Aber jetzt hassten sie ihn und wünschten ihm alles Schlechte an den Hals. Vor einer halben Stunde, schon in tiefer Dunkelheit, hatte man sie aus den Quartieren gescheucht. Jetzt waren sie mit Spaten und Pickeln dabei, am Ortsrand von Lysselkowo Deckungslöcher in die verschneite, beinhart gefrorene Erde zu wühlen.

      Auf einem Meldekrad fuhr Hauptmann Martin umher und überzeugte sich vom Fortschritt der befohlenen Arbeiten. Zwar herrschte vollkommene Ruhe in der nächtlichen Schneewüste, die in dichten Nebel eingehüllt war, aber der alarmierende Anruf der Abteilung sagte genug.

      Als er die Feuerstellung am nördlichen Ortsrand verlassen hatte, fluchten die Kanoniere hinter ihm her. Blödsinn, dieser Zirkus! Als ob der Russe in der nächsten Stunde vor Lysselkowo stünde! Eine Alarmübung, meinten einige, damit die Knochen nicht einrosteten. Aber die Mehrzahl war der Überzeugung, der »Alte« wäre übergeschnappt.

      Sogar der Schirrmeister, Wachtmeister Urban, war nahe daran, zu meutern, als der Chef ihm befahl, sämtliche entbehrlichen Fahrzeuge, vor allem die Zugmaschinen, in der Balka in Deckung zu bringen, einer jener schmalen, tief eingeschneiten Schluchten, wie sie überall in den Steppen Russlands zu finden sind.

      In der grimmigen Kälte schippten die Fahrer den mehrere Meter hoch angewehten Schnee aus der Schlucht. Erst tief in der Nacht war es möglich, die Fahrzeuge heranzuholen. Zu allem Überfluss begann es auch wieder zu schneien. Oder war es Treibschnee, den der schneidende Wind in Wolken vor sich herjagte?

      Unterdessen geisterte Hauptmann Martin durch das Dorf. Die russischen Bewohner von Lysselkowo waren schon im Sommer, bei Beginn der Kämpfe, abgezogen. Eine Zeit lang hatten Rumänen in dem Ort gehaust und später, bis vor kurzem, eine italienische Nachschubeinheit. Viel Brennbares war nicht mehr zu finden, aber so viel war es doch immerhin, dass die Quartiere wenigstens einigermaßen angewärmt waren. Kleine Lehmkaten waren es, dicke Schneehauben saßen auf den Strohdächern, und die mit vergilbtem Zeitungspapier beklebten winzigen Fenster waren mit Eisblumen bedeckt. Auch im Dorf wurde gearbeitet. Vor den Hütten wurde Schnee aufgehäuft und danach mit Wasser übergossen. Mit den so entstehenden Eispanzern hatte man im vergangenen Winter gute Erfahrungen gemacht. Sie schützten gegen Granatsplitter und hielten sogar Gewehr- und MG-Geschosse ab.

      Im Haus neben dem Quartier des Chefs, in dem auch Leutnant Holler, der Beobachtungs-Offizier, und die Männer des Batterietrupps untergebracht waren, hatte sich die Nachrichtenstaffel eingerichtet. Die Fernsprecher hatten mehrere Stunden lang Leitungen gelegt; jetzt schippten sie draußen wie alle anderen und murrten über den Irrsinnseinfall des Chefs. Nur die Fernsprechwache war im Haus. Am Funkgerät in dem gesonderten Raum des Funktrupps saß Unteroffizier Kolb, der Nachrichtenstaffelführer. Er hatte die Kopfhörer angelegt; das Gerät befand sich auf Empfang. Wofür dieser ganze Aufwand gut war und weshalb man Wachtmeister Fendt nach Einbruch der Dunkelheit zu den Italienern in Marsch gesetzt hatte, war selbst Kolb, dem »Intelligenzler«, der sonst vieles durchschaute, völlig unverständlich. Doch so viel Umsicht traute er dem Chef zu, dass der nicht aus einer Laune oder gar aus Bosheit die Batterie am Abend hochgescheucht hatte. Und schließlich war ja da auch der Anruf der Abteilung. Vermutlich war doch etwas Besonderes im Gange. Schon mehrmals hatte der Chef nachgefragt, ob Fendt sich gemeldet habe.

      Jetzt kam er wieder, schüttelte den Schnee von der verbeulten Feldmütze und knöpfte den Übermantel auf, den er über dem Tarnanzug trug.

      »Nichts, Herr Hauptmann«, sagte Kolb, »immer noch nichts.«

      Hauptmann Martin nickte und murmelte: »Schlechtes Fahren in der Dunkelheit, dazu dieser Nebel und der Schnee.« Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte ein paar Züge und fügte dann hinzu: »Wir sind draußen so weit fertig. Ich gehe ins Quartier. Lassen Sie mich wecken, sobald Fendt Laut gibt.«

      Kolb hatte die Kopfhörer abgestreift. Die Miene des Chefs war verschlossen, als trüge er etwas mit sich, was ihm ernste Sorgen bereitete.

      Hauptmann Martin merkte, dass der Unteroffizier etwas sagen wollte.

      »Ist noch was, Kolb?«, fragte er.

      »Ist der Russe vorn bei den Italienern durch?«, brachte Unteroffizier Kolb stockend hervor.

      »Unsinn, Menschenskind!«, antwortete Hauptmann Martin mit erzwungener Heiterkeit. Ohne ein weiteres Wort ging er hinaus. »Streng geheim«, hatte der Kommandeur ihm bei seinem Anruf eingeschärft, »wenn es bekannt wird, drehen uns die Hiwis schon vorher durch.«

      Die Hiwis waren eines der Probleme der Division. Nach der letzten großen Kesselschlacht, im Mai, südlich von Charkow, hatte man ein paar Hundert von ihnen eingestellt, um die im Winter entstandenen Fehlstellen einigermaßen auszugleichen. Man hatte die Ukrainer, Weißrussen, und was sie immer waren, nach Frankreich mitgenommen. Nun waren sie – offensichtlich zu ihrem Missvergnügen – mit der Division in ihre russische Heimat zurückgekehrt. Auch in der dritten Batterie waren etliche von ihnen. Einige der Zuverlässigsten bei der Munitionsstaffel, alle übrigen beim Tross.

      Hauptmann Martin ging die paar Schritte zu seinem Quartier hinüber. Unter seinen Filzstiefeln knirschte der Schnee. Sonst war es still in Lysselkowo. Kein Lichtschein, tiefe Dunkelheit. Johlende Windstöße und stiebender Schnee, der wie tausend Nadeln ins Gesicht stach. Welch ein Gegensatz: Aus dem milden Spätherbst des südlichen Frankreich ins winterliche Russland! Man selbst hatte ja schon einen russischen Winter durchgestanden, aber viele waren als Ersatz neu zur Division gekommen, im Sommer, als man in Frankreich in Ruhe lag. Eilig ausgebildete Rekruten zumeist, die den Osten und den russischen Gegner nur vom Hörensagen, von Zeitungsberichten und von der Wochenschau kannten.

      Allem Anschein nach ist da ein verdammt fauler Braten im Rohr, dachte Hauptmann Martin. Doch was auch geschehen mochte, er war entschlossen, es diesmal nicht so weit kommen zu lassen wie im vergangenen Winter, als sie hinten am Donez die Geschütze sprengen und sich bei meterhohem Schnee mit dem Karabiner durch den Feind schlagen mussten.

      Durchgefroren betrat er die Kate, die man für ihn als Quartier ausgesucht hatte. In der kleinsten der drei vorhandenen Stuben erwartete ihn Leutnant Holler, auch ein Neuer ohne Osterfahrung.

      Martin nahm die Feldmütze ab und zog den Übermantel aus.

      »Nun, Herr Holler«, fragte er, »haben Sie noch was auf dem Herzen?«

      »Warum das alles, Herr Hauptmann?«, fragte Holler, der befehlsgemäß draußen mit den anderen Spaten und Pickel geschwungen hatte. »Warum diese Schinderei im Dunkeln bei diesem Frost?«

      »Ja, warum«, sagte Hauptmann Martin unbewegt. »Vielleicht wird Ihnen schon morgen Früh jemand anders die Antwort geben.«

      Rittmeister von Ehrenfeld erwachte aus unruhigem Schlaf. Ehrenfeld war Balte. In seiner Jugend, während der Kämpfe im Baltikum, hatte er als Fähnrich eine Schwadron in einem der Freiwilligenverbände geführt. Dem Divisionsstab gehörte er als Russlandexperte und Dolmetscher für Ostsprachen an. Zudem war er Chef der als Stabswache eingeteilten Ost-Kompanie, die er selbst im vergangenen Frühsommer aufgestellt hatte.

      Ehrenfeld bewohnte allein eine der dürftigen Hütten von Schepetowka, die so grau und trostlos aussahen, als hätte die Steppe selbst

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