Sophienlust Box 15 – Familienroman. Patricia Vandenberg
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»Wo ist Bärbel?«, wollten die beiden Mädchen, denen es bereits besser ging, wissen.
»Sie hat heute Nacht nur wenig geschlafen und ist noch sehr müde. Deshalb habe ich sie in mein Zimmer gestellt«, erklärte die Ärztin mit gedämpfter Stimme.
Die beiden Mädchen verstanden und verhielten sich an diesem Vormittag ruhiger als sonst.
Als Bärbel gegen Mittag erwachte, flößte Anja ihr eine stärkende Brühe ein. Ihre Temperatur war nun etwas gesunken.
»Ich habe von meiner Mutti geträumt. Wo ist meine Mutti, Tante Doktor?«, wollte Bärbel wissen.
»Deine Mutti ist doch in Urlaub gefahren. Weißt du das nicht mehr?« Anja hielt es immer noch für das Beste, dem Kind die Wahrheit zu sagen und vernünftig mit ihm zu sprechen.
Die Kleine nickte auch zu den Worten der Ärztin. Doch dann hob sie wieder den Kopf und fragte: »Aber warum lässt sie mich so lange allein?«
Anja spürte Mitleid in sich aufsteigen.
»So lange ist es doch gar nicht. Das kommt dir nur so vor, Bärbelchen. In einer Woche darfst du deine Mutti wiedersehen. Das ist nicht mehr so lange.«
Wiederum nickte das geschwächte Kind mit dem Kopf. Dann schluckte es die Tropfen, die Anja ihm auf einem Löffel hinhielt.
»Möchtest du, dass ich dir eine Geschichte erzähle?«, fragte Anja, während sie Bärbels Bett wieder zurück in das Zimmer zu den anderen beiden Mädchen rollte.
Bärbel nickte nur schwach, während die anderen Kinder in begeistertes Bitten ausbrachen.
Anja Frey, die sich in diesen Tagen manchmal wunderte, woher sie all die Geschichten nahm, dachte sich schnell etwas aus und begann zu erzählen: »Es war einmal ein kleines Mädchen, das große Sehnsucht nach seiner Mutter hatte. Denn die Mutter lebte weit entfernt und konnte nicht zu ihrer Tochter kommen.
Eines Tages kam in das Zimmer des kleinen Mädchens ein kleiner bunter Vogel geflogen. Er hatte keine Scheu vor dem kleinen Mädchen und hüpfte vergnügt in dem Zimmer umher. Doch wenn er sang, musste das kleine Mädchen komischerweise immer nur an seine Mutter denken. Warum nur?
Das kleine Mädchen dachte lange nach. Dann wusste es plötzlich: Die Mutter hatte den kleinen Vogel geschickt, um sie durch ihn zu grüßen. Doch eines Tages würde die Mutter genauso bei ihr sein wie der kleine bunte Vogel.«
Anja Frey hatte ihre Geschichte beendet. Bei den letzten Worten waren Bärbel die Augen zugefallen. Ein seliges Lächeln lag auf ihren Lippen. Die Ärztin war sicher, dass das Kind nun von einem kleinen bunten Vogel träumte, der ihm einen Gruß von der Mutter brachte.
*
Corinna erwachte, als es im Osten bereits grau wurde. Einen Moment lang lag sie regungslos da. Dann überfiel sie wieder die Erinnerung mit all ihrem Schmerz.
Corinna wandte den Kopf zu der Bettstatt hin, die einen halben Meter von ihr entfernt stand. Undeutlich hoben sich Jochens Umrisse unter dem Schlafsack ab. Sie hörte seine gleichmäßigen Atemzüge.
Da öffnete sie vorsichtig den Reißverschluss ihres Schlafsackes und schälte sich aus ihm heraus. Genauso leise schlüpfte sie in ihre Kniebundhose und die Bluse und zog einen Pullover darüber. Als sie fertig angezogen noch einmal zum Bett hinüberschaute, sah sie Jochen in unveränderter Stellung und gleichmäßig atmend in seinem Schlafsack liegen.
Rasch zog sie ihre Bergschuhe an, die im vorderen Teil der Hütte neben der Tür standen. Ebenfalls neben der Tür standen die beiden Rucksäcke mit der Bergsteigerausrüstung. Seile, Haken und alles, was dazu gehörte, waren in den Rucksäcken verstaut.
Corinna nahm ihren Rucksack und hängte ihn sich über die Schulter. Dann öffnete sie die Hüttentür. Sie stand bereits auf der Schwelle, als sie sich zögernd noch einmal umwandte. Jochen hatte sich die ganze Zeit nicht ein einziges Mal bewegt. Doch ihr Zögern dauerte nur wenige Sekunden. Dann wandte sie sich entschlossen ab und schloss bestimmt, aber lautlos, die Hüttentür hinter sich. Eine unwirkliche Stimmung hing über den Bergen. Wie große drohende Schatten ragten sie aus dem unbestimmten grauen Licht empor.
Es war noch immer Nacht. Noch war die Sonne hinter den Bergen nicht aufgegangen. Nur ein unsicheres helles Grau, das ihrem Schein voranging, kündigte die Sonne an.
Ohne sich ein einziges Mal nach der Hütte, in der sie ihr Glück gefunden und wieder verloren hatte, umzudrehen, schritt Corinna auf den Felsen zu. Mit keinem Gedanken gab sie sich Rechenschaft über das ab, was sie tat. Warum hatte sie die Hütte verlassen? Sie wusste es nicht. Sie hatte sich nur auf ihr Gefühl verlassen und das getan, was sie geglaubt hatte, tun zu müssen.
Als die unbestimmte Düsterkeit sich in ein helles Licht verwandelte, hatte Corinna die Wiesen- und Geröllhänge schon weit hinter sich gelassen. Sie begann den schwierigen und gefahrvollen Aufstieg zu einem der steilsten und höchsten Dolomitengipfel. Zur Absturzstelle ihres Mannes.
Corinna hätte nicht sagen können, wann dieser Gedanke in ihr gereift war, ob es in dem Moment des Erwachens, beim Verlassen der Hütte oder erst beim Beginn des Aufstieges gewesen war. Auf jeden Fall war ihr ihr Ziel bewusst geworden, als die ersten Meter des Anstiegs all ihre Kräfte erfordert hatten.
Als ihr Körper sich erwärmt hatte, hielt sie einen Moment inne. Sie zog den schweren Pullover aus und verstaute ihn im Rucksack. Nur einen Moment dachte sie daran, dass für diesen schwierigen Aufstieg eigentlich zwei Personen notwendig waren, die sich gegenseitig am Seil sichern konnten. Aber sie hatte sich vorgenommen, eine Höchstleistung zu vollbringen, denn sie glaubte, nur damit das Schicksal wieder versöhnen zu können.
Als die Sonne dann goldgleißend über den Zacken der Felsen aufging, legte Corinna eine kurze Rast ein, um dieses Naturschauspiel zu beobachten.
Andächtig und fast staunend betrachtete sie die strahlende Helle, in die die Bergwelt nach der langen, düsteren Nacht nun getaucht war. Erst in diesem Moment legte sie sich zum ersten Mal bewusst Rechenschaft über das ab, was sie vorhatte.
Ich bin mit Jochen in Urlaub gefahren, um die Unfallstelle meines Mannes aufzusuchen, sagte sie sich. Aus diesem Grund war es auch gerechtfertigt, dass ich mein Kind allein ließ. Als ich meinem Vorhaben dann untreu wurde, bestrafte mich das Schicksal. Mein Kind wurde krank. Schwer krank. Und nur ich in meiner Treulosigkeit bin schuld daran. Ich bin schuld, wenn mein geliebtes kleines Mädchen vielleicht stirbt.
»Oh, Bärbel!« Corinna schrie den Namen des Kindes in den unberührten Morgen hinein und spürte nicht die Tränen auf ihren Wangen.
Doch so überraschend wie dieser Ausbruch sie überfallen hatte, so schnell fasste sie sich wieder. Ich werde nachholen, was ich versäumt habe, und dann wird Bärbel wieder gesund werden, sagte sie sich. Daran glaubte sie fest. Es gab ihr die Kraft, weiterzusteigen.
Schritt für Schritt setzte Corinna ihren Fuß auf den immer schmaler und gefährlicher werdenden Weg, der plötzlich nur noch aus einzelnen Trittstellen bestand. Spätestens hier hätte sie sich anseilen müssen. Aber es war ja niemand da, der sie hätte absichern können.
»Ich brauche niemand, der mich sichert«, sagte sie laut zu sich selbst. »Ich schaffe es allein!« Sie nutzte all ihre Routine aus und erkämpfte sich Schritt für Schritt das schwierige und manchmal heimtückische