Ohne Gnade. Helmut Ortner

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die Henkermahlzeit also mehr dem Delinquenten, dem man eine letzte Freude bereiten will, oder ist sie als Versöhnungsgeste derer zu verstehen, die die gewaltsame Tötung zu verantworten haben?

      Hans von Hentig ist dieser Frage nachgegangen. Seine ethnologischen Studien über dieses jahrtausendealte Ritual kommen zu dem Ergebnis, dass die Henkersmahlzeit zu keiner Zeit ein letzter Akt der Humanität war. „Unverbrüchlich halten die Völker an einer Maßnahme fest, die kein Gesetz vorschreibt, als ob sie ihnen mehr nütze als dem Delinquenten“. Eher sei die Henkersmahlzeit eine Art Besänftigungsritual. Der Hingerichtete soll, ähnlich wie die umsorgten Menschenopfer in archaischen Gesellschaften, vor der Exekution milde gestimmt werden, damit er nicht als Rachegeist wiederkehre. So sei „der alte, rätselhafte Widerspruch zwischen kalter Grausamkeit und zarter letzter Gunsterweisung“ zu verstehen, so von Hentig.

      In den US-Gefängnissen werden diese Versöhnungs- und Besänftigungsrituale noch heute praktiziert. „Der Weg durch die Pforte des Todes führt deshalb noch für eine kurze Zeit durchs Schlaraffenland“, wie Bernard konstatiert, um jenen „seelischen Zustand herzustellen, den der arme Sünder in die Geisterwelt mitnehmen soll“ (von Hentig).

      Und so finden sich in den sogenannten Todestrakten besonders wohnlich ausgestattete Räume, die mit gewöhnlichen Zellen nur wenig gemein haben. Es gibt pastellfarbene Wände, bessere Bettwäsche, mitunter TV-Geräte, gepflegtere Kleidung – und eben auch eine letzte individuelle Mahlzeit. Ein Refugium zwischen Leben und Tod – ein Ort der Entspannung. „Schmeicheln will man mit diesen Vorzügen nicht mehr dem lebendigen Körper des Delinquenten sondern schon seiner unsterblichen Seele. Die Henkersmahlzeit ist eine zu Lebzeiten verabreichte Grabbeigabe“, so Bernard.

      Deutlich wird: Das Ritual der Henkersmahlzeit ist auch heute noch kein finaler Akt der Humanität auf dem Weg in den Tod, sondern Teil eines möglichst reibungslosen Ablaufs. Mit der Bestellung und dem Verzehr seiner Lieblingsspeise gibt der Todeskandidat gewissermaßen sein Einverständnis zur vorgegebenen Dramaturgie und autorisiert seine bevorstehende Hinrichtung. Was aber geschieht, wenn der Delinquent die letzte Mahlzeit ablehnt, wenn er das vorgesehene Protokoll verweigert, wenn sich ein „Missklang in die Erbaulichkeit der Prozedur“ mischt, wie Hans von Hentig es nennt? Die Verweigerung der Henkersmahlzeit ist für das Gefängnissystem mehr als eine störende, stille Rebellion. Eine solche Entscheidung bringt nicht nur den stringenten Ablauf in Gefahr, sondern ist geeignet, innerhalb der Organisation für Unruhe zu sorgen. Der Delinquent signalisiert: Er will keinen Frieden mit seinen Richtern schließen. Er verweigert die symbolische Unterzeichnung seines Todesurteils. Die Gefängisdirektoren atmen also auf, wenn aus der Todeszelle eine Bestellliste kommt, sei sie auch noch so exotisch.

      Bernard hat für das Texas Department of Criminal Justice eine Liste erstellt, auf der alle „letzten Gerichte“ der in Texas hingerichteten Delinquenten aufgeführt wurden. Die Liste, die im Internet eingesehen werden kann, umfasst die Zeit vom 7. Dezember 1982 bis zum 12. Juli 2000, insgesamt 224 Personen, die in diesem Zeitraum durch eine Giftspritze in der Strafanstalt Huntsville hingerichtet wurden. Die Frage nach dem Lieblingsgericht, von Boulevardblättern ansonsten gerne Prominenten gestellt, wurde der Öffentlichkeit nun in neuer Lesart serviert. Von den Eigenheiten des Geschmackssinns erhofft man sich Auskünfte über die Identität des Menschen. In diesem Fall über die texanischen Todeskandidaten.

      In einem Interview sagte der Gefängniskoch von Huntsville, der vermutlich die meisten der auf dieser Liste aufgeführten Gerichte zubereitet hatte: „Ich glaube, das sind Speisen, mit denen die Verurteilten schöne Erinnerungen aus ihrer Jugend verbinden.“ Gab es Besonderheiten, die auf dieser Liste zu erkennen waren? Zunächst die unerwartete Gleichförmigkeit der Menüs. Burger, Steak oder Chicken – diese drei Gerichte machten weit mehr als die Hälfte aller Bestellungen aus. Dass sich die Delinquenten noch einmal eine der typischen amerikanischen Mahlzeiten wünschten, weist vermutlich tatsächlich auf jene frühen Erinnerungen hin, die sie mit diesem Essen verbanden, genauso wie die Todeskandidaten südamerikanischer Herkunft fast ausnahmslos Speisen wie Tacos, Enchiladas oder Fajitas bestellten.

      Das überraschend schmale Spektrum der Henkersmahlzeiten hatte aber auch einen verwaltungstechnischen Grund, wie Bernard mutmaßte. In den letzten Jahren hatten die amerikanischen Gefängnisse nach und nach die freie Wahl der Speisen eingeschränkt. Machten sich um 1900 die Delinquenten noch einen letzten Spaß daraus, möglichst Außergewöhnliches und Luxuriöses in Auftrag zu geben, um die Gefängnisverwaltung gewissermaßen zum irdischen Finale noch einmal herauszufordern, gab es in Huntsville dagegen nur das, was in der Küche zur Verfügung stand. Sogar eine Bestellung wie „Shrimps mit Salat“ (Pedro Muniz, hingerichtet am 19.5.1998) wurde zurückgewiesen, weil keine Meeresfrüchte vorrätig waren. Die Henkersmahlzeit als unreglementierter Ausbruch aus der Ordnung der Gefängniskost gibt es nicht mehr. Alkoholische Getränke sind ohnehin seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1976 verboten. Der Todeskandidat soll in vollem Bewusstsein seinem Schicksal entgegengeführt werden, ungetrübt von den beruhigenden Wirkungen des Alkohols. Selbst der traditionelle Wunsch nach einer „letzten Zigarette“, jahrhundertelang Sinnbild für die ablaufende Lebenszeit des Delinquenten, wird mittlerweile verwehrt.

      Dennoch, Delinquenten nehmen es sehr genau mit der Bestellung ihrer letzten Lieblingsspeisen. Menge und Zubereitungsart werden mitunter akribisch beschrieben, Sonderwünsche sorgsam formuliert, so, als wäre es eine letzte Möglichkeit, noch einmal etwas Persönliches, eine besondere Eigenart oder Vorliebe herauszustreichen:

      „Vier bis fünf Spiegeleier“ (Noble Mays, hingerichtet am 6.4.1995), „Pepperoni-Pizza, mittelgroß“ (Richard Brimage, Jr., 12.3.1997), „gebratenes Huhn, nur weißes Fleisch“ (Richard Foster, 24.5.2000), „zehn Quesadillas, fünf gefüllt mit Mozzarella, fünf gefüllt mit Cheddar“ (Jessy San Migule, 29.6.2000).

      Und es gibt Bestellungen, bei denen der Delinquent eine genaue Anordnung der Speisen auf dem Teller vorgibt, ganz so, als würde er jener Klarheit und Ordnung noch einmal Rechnung tragen, die seinen Alltag in den langen Gefängnisjahren bestimmten.

      „Das Dressing zum Salat soll separat serviert werden” (James Clayton, 24.5.2000), „die geschmolzene Butter zu den Honigsemmeln nicht auf dem Gebäck, sondern daneben“ (Orien Joyner, 12. 2000).

      Es gibt Wünsche, bei denen die Todeskandidaten am Vorabend ihrer Hinrichtung noch auf ihren Körper und auf Gesundheit und Fitness achten: Ronald O’Bryan etwa, hingerichtet am 31.3.1984, verlangt „Süßstoff statt Zucker zu seinem Tee“, Kenneth Dunn (10.8.1999) ein „Diet Cream Soda“, und Cornelius Goss (23.2.2000) möchte sogar nichts weiter als „einen Apfel, eine Orange, eine Banane, eine Kokusnuss und Pfirsiche“.

      Schließlich jene Menü-Wünsche, die opulent und maßlos erscheinen, so, als wolle der Delinquent Vorsorge treffen, noch einmal das Privileg der Ausschweifung wahrnehmen, etwa die

      „zwei Dutzend Rühreier“ von Robert Streetman (7.1.1988), die „zwölf Stücke gebratenes Huhn“ von Domingu Cantu, Jr. (28.10.1999) oder die Bestellung von David Castillo (23.8.1998): „24 Soft-Shell-Tacos, sechs Enchiladas, sechs Tostados, zwei ganze Zwiebeln, fünf Jalapenos, zwei Cheeseburger, ein Schokoladen-Milchshake, eine Packung Milch“.

      Nur knapp ein Zehntel der auf Bernards Liste aufgeführten 224 Todeskandidaten verweigerte die Bestellung einer Henkersmahlzeit und ließ sich nüchtern auf die Pritsche im Injektionsraum führen. Das letzte Mahl wird so neben dem Zellenwechsel sowie der großzügigen Gewährung von Besuchen der Angehörigen, Verwandten und Freunde als letztes Friedensangebot und Besänftigungsritual gewährt. Der Delinquent darf sich noch einmal zu essen wünschen, was immer er mag, so viel er will. „Ein paradoxes Privileg“, nennt das der Philosoph Wolfram Eilenberger. „Noch bevor die Nahrung verdaut ist, wird das Leben ausgelöscht sein. Um den Erhalt der Körperfunktionen kann es bei diesem Ritual also nicht gehen, viel eher um eine karnevaleske Distanzierung von der erahnten Unwürdigkeit des Geschehens.

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