Ohne Gnade. Helmut Ortner

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stören, indem er sich nicht in die vorgesehene Rolle einfügte. Ein widerspenstiger Delinquent, der anhaltend seine Unschuld beteuerte oder gar sein Schuldgeständnis öffentlich widerrief, gefährdete nicht nur das Ansehen der Obrigkeit, sondern den Glauben an die Gerechtigkeit selbst. Wenn es ihm gar gelang, das zuschauende Volk gegen den Scharfrichter aufzuwiegeln, konnte es passieren, dass der Verurteilte nicht als schuldiger armer Sünder, sondern vielmehr als Held oder Märtyrer gefeiert wurde.

      Das Ziel der Obrigkeit war also eine würdevolle und zugleich abschreckende Hinrichtung, die zwar Mitleid erlaubte, aber jede Sympathie für den Delinquenten unterband und vor allem den Scharfrichter zum Symbol des gesetzestreuen Rächers erhob. Eine für alle Beteiligten verbindliche Dramaturgie war also notwendig, damit die Würde des Gerichts ebenso wenig in Frage gestellt wurde wie die Abschreckungsfunktion des Hinrichtungszeremoniells.

      Dazu gehörte, die mit dem Geständnis errungene Einwilligung des Delinquenten nach der Urteilsverkündung aufrechtzuerhalten und durch allerlei Gunstbezeugungen des Gerichts zu stärken. So konnte ihm für die letzten drei Tage im Gefängnis eine bessere Unterkunft gewährt werden, auch konnte ihm erlaubt werden, neue – mitunter selbstgewählte – Kleidung zu tragen. Vor allem erhielt der Verurteilte besseres Essen und ausreichend zu trinken. Denn: „Mahl und Trinken gehören zur glücklichen Hinrichtung und zum christlichen Tod, wie die Bereitschaft zu sterben, das Geschick des Scharfrichters und die Versicherung des armen Sünders, dass er niemand grolle.“

      Besonders das letzte Mahl, das dem Verurteilten vor der Hinrichtung gewährt wurde, diente dazu, dem Delinquenten das Sterben zu erleichtern und seine Einwilligung zur Hinrichtung abermals zu festigen. Die sogenannte Henkersmahlzeit konnte der Delinquent allein einnehmen oder gemeinsam mit dem Scharfrichter; es konnte aber auch das letzte Mahl des Todeskandidaten mit mehreren Personen, etwa dem Henker, dem Richter und dem Geistlichen sein. Verschiedene Rituale der Henkersmahlzeit, wie sie im alten Nürnberg, aber auch in anderen mittelalterlichen Städten wie Frankfurt, Basel, Stuttgart, Eger, Köln oder Breslau stattfanden, hat Hans von Hentig in seinen Studien über Henkermahlzeiten eindrucksvoll dokumentiert.

      Etwa in den Kellern des Nürnberger Lochgefängnisses, dort waren zwölf Zellen. In den beiden hintersten Zellen war der Ort, wo dem Verurteilten an den drei Tagen vor der Hinrichtung ein üppiges Mahl gereicht wurde, dessen Gänge genau festgelegt waren. So wurde dem zum Tode Geweihten eine Flasche Wein zur Labsal und Erquickung aufgetragen. In den Städten gab es bei der Ausgabe von Speis und Trank unterschiedliche Prozeduren: Waren es in Eger fünf Tage gutes Essen bis zum Tode und dazu noch Lichter, wurde in Frankfurt das letzte Mahl aus einem Hospital geliefert, so anlässlich der Hinrichtung der bereits genannten Kindsmörderin Susanna Brandt 1772 in Frankfurt. Bei von Hentig findet sich das Protokoll ihrer üppigen Henkersmahlzeit:

      „Ein Tisch wurde in dem Hauptzimmer gedeckt, und durch löbl. Hospital-Amt besorgte Essen und Wein aufgetragen. Dieses hat, wie ich höre, dem alten Herkommen nach bestanden: 1.) in einer guten gersten Supp, 2.) in einer Schüssel blau Kraut, 3.) einer Schüssel Bratwürste von 3 Pfundt, 4.) 10 Pfundt Rindfleisch, 5.) 6 Pfundt gebackene Karpfen, 6.) 12 Pfund gespickten Kalbs-Braten, 7.) einer Schüssel confect, 8.) 30 Milchbrodt, 9.)2 schwarze Hospital Leibbrodt und 10.) 8 1/2 Maas 1784er Wein.

      Am Tisch haben Persohnen gesessen: Unterzeichneter, Herr Pfarrer Willemer und Herr Obrist-Richter rechter Hand, Herr Pfarrer Zeitmann und die beyde Herren Göring und Göckler linker Hand, dabey hat serviret der bender löblichen Hospitals, Meister Freinsheim, dessen Knecht und der Hospital Becker.

      Ich habe nichts gegeßen, dahingegen der Herr Pfarrer Willemer, Herr Pfarrer Zeitmann und Herr Obrist-Richter Raab etwas weniges, die beyde Einspänner aber von allem gegessen.

      Ich habe der Maleficantin von allen Speisen anerbieten lassen, die sie aber ausgeschlagen und dagegen ein Glaß puren Wassers gefordert und solches auch getrunken. Denen beyden Herrn Candidaten, weilen es herkömmlich, habe jedem einen Schoppen Wein und zwey Milchbrodt verabreichen lassen.

      Zwischen der zeit bekamen die gem. Weltlichen Richter ein Maas Wein und einen schwarzen Hospital Leibbrodt, die des Nacht die Wacht gehabte Soldaten aber drey Pfundt Edamer Käß, 1 schwartz Hospital Leibbrodt und 12 Maas Bier.

       Wie nun an dem Tisch wenig gegessen und getrunken worden, so wurde der gantze Rest des Essens den Gem. Weltl. Richtern übergeben.“

      Niemand nahm Anstoß an dem reichlichen und teuren Essen. Dass die der Hinrichtung nahe Kindsmörderin trotz mehrfacher Offerte die Speisen ausschlug, konnte allerdings als schlechtes Omen für die Vollstreckung ausgelegt werden. „Wer immer das Henkersmahl annimmt, schließt schweigend Urfehde (Frieden) mit denen, die Schuld an seinem Tod tragen“, so Hentig.

      Das Kernstück, gewissermaßen das Hauptgericht aller essbaren und trinkbaren Gaben war die Mahlzeit, die kurz vor dem Tod gereicht wurde. Sie ist das eigentliche, das klassische Henkersmahl. Es trägt einen besonderen Charakter, weil es dem Gefangenen eine erhebliche – letzte – Freiheit zugesteht. Es symbolisiert die Umkehrung aller Herrschaftsverhältnisse, wenn der Hilfloseste der Hilflosen, der Gefangene, vor dem Tode Macht erhält, den Speisezettel der Henkersmahlzeit selbst zu bestimmen. Wie in Rom Herr und Sklave, so tauschten in vielen Ländern Staat und Todgeweihter für kurze Zeit die Rollen. Die Henkersmahlzeit schloss so Frieden zwischen dem Gericht und dem Delinquenten, also auch zwischen dem Henker und dem Todeskandidaten.

      Die Sitte des Henkersmahls lässt sich bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts verfolgen. Kriminalhistoriker führen Belege an, wonach es in Ägypten als Bestätigung des Todesurteils galt, wenn der König dem armen Sünder Leckerbissen und Speisen von seiner Tafel erlaubte. Das Judentum kannten die Henkersmahlzeit in Gestalt eines betäubenden Trankes, der vor der Hinrichtung gereicht wurde. Neben den Berichten aus alter Zeit beweisen Aufzeichnungen aus asiatischen Ländern, dass unser Henkersmahl nichtchristlichen Wurzeln entspringt. In Persien wurden alle Wünsche des armen Sünders, was Essen und Trinken angeht, in großzügiger Weise erfüllt. Über Zeiten, Religionen und Kulturen hinweg blieb das Henkersmahl also ein Ritual der Versöhnung und des Friedensschlusses. Bis heute hat sich dieser Ritus erhalten. Er wurde aus früheren, roheren Zeiten übernommen.

      Aber ist es tatsächlich ein Akt der Versöhnung? Gibt man dem Delinquenten wenige Stunden vor seiner Hinrichtung mit der Henkersmahlzeit wirklich noch einmal Würde und Selbstbestimmung zurück? Handelt es sich tatsächlich um einen Friedensakt mit dem Täter oder einzig um ein Besänftigungsritual für die Lebenden? Der Autor Andreas Bernard hat in seinem Artikel Das letzte Gericht den Ursprung des Rituals auf unsere Zeit übertragen – und in Frage gestellt.

      „Auffällig ist“, so schreibt er, „wie sehr dieses Ritual gegen die gewohnte Ordnung des Gefängnislebens verstößt, gegen jene Regulierung des Alltags, der Arbeit und der Mahlzeiten, der auch die Todeskandidaten jahrelang ausgesetzt waren.“ Er zitiert Michel Foucault, der wie kein anderer den Strafcharakter des Gefängnisses eindringlich analysierte und dabei feststellte, „unaufhörliche Disziplin“ sei das Prinzip dieser Institution. Das „Einwirken auf das Individuum“ dulde keine Unterbrechung. In den Gefängnissen vollzieht sich seit jeher ein Gutteil dieser Disziplinierung über das Essen. Ein karger und unabhängig vom Willen der Insassen zusammengestellter Speiseplan soll zur Mäßigung beitragen, soll aus den Gesetzesübertretern wieder brauchbare Staatsbürger machen.

      „Was also bedeutet vor diesem Hintergrund die letzte Ausschweifung der Henkersmahlzeit“, fragt Bernard. Plötzlich darf der Delinquent seine Mahlzeit, auch wenn es seine finale ist, individuell zusammenstellen. Nicht mehr das Gefängnissystem mit seinem rigiden Organisationsablauf entscheidet, sondern der Todeskandidat allein. Ist es eine letzte Geste, ihm angesichts des nahen Todes noch einmal ein wenig Würde und Selbstbestimmung zurückzugeben? Oder ist eher das Gegenteil der Fall: die Justiz gibt mit der Erlaubnis zur individuellen Maßlosigkeit noch einmal zu verstehen, dass der Todeskandidat nun endgültig

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