Auf den Spuren des Doppeladlers. Helmut Luther
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Seit einigen Stunden bin ich mit Giorgio Jellici unterwegs, als der 84-Jährige, der mit seiner sportlichen Figur und kaum einem grauen Haar auf dem Kopf leicht als Anfang siebzig durchgehen könnte, seine dunkle Sonnenbrille abnimmt, mir tief in die Augen schaut und sagt: »Sie sind zwar eine Nervensäge, können aber auch ziemlich sympathisch sein.« Klar, er hat etwas gut bei mir, außerdem begann unser gemeinsamer Tag eher ungünstig. Jellici reiste aus Deutschland mit dem Zug nach Bozen. »Bis zum Brenner ging alles glatt. Kaum waren wir in Italien, hieß es, wir würden mit knapp einer Stunde Verspätung ankommen.« Im ersten Haus am Platz neben dem Bahnhof, wo er Logis genommen hatte, hieß es um halb drei am Nachmittag, sein Zimmer sei noch nicht fertig. Als wir dann losfahren wollten und ich ihm vorher ein Buch zurückgab, das er geschrieben und mir leihweise per Post zugeschickt hatte, und der alte Herr durch ein paar Stichproben feststellen musste, »Sie haben es nicht gelesen!«, war er kurz davor, den Rückwärtsgang einzulegen. In einer Zeitung hatte ich vom Wiener Juden Richard Löwy erzählt – und nicht erwähnt, dass ohne Giorgio Jellici keiner mehr vom traurigen Schicksal Löwys und seiner Familie wüsste, alle wurden in Auschwitz ermordet. Das kam nicht gut an bei Jellici. Doch nun ist er in Bozen. Ich bat ihn, mir die Originalschauplätze von Löwys Geschichte im Fassatal zu zeigen, er stimmte zu. Mit dem Auto fahren wir ins ladinische Tal hinter dem Karerpass.
Richard Löwy im Fassatal
Giorgio Jellici hat Richard Löwy persönlich gekannt. In seiner Kindheit verbrachte er die Sommer- und Winterferien bei seiner Tante, der Volksschullehrerin Valeria Jellici, in Moena, wo die Löwys Unterschlupf gefunden hatten. »In dieser Zeit sah ich Richard täglich, er nannte mich Jörgele«, erzählt Jellici. Sein eigener Weg führte ihn ins Ausland. Nach Stationen in Barcelona, Frankfurt und Brüssel ließ sich der gelernte Jurist mit seiner Familie in Erlangen nieder. 36 Jahre arbeitete Jellici, zuletzt als Direktor, für einen weltweit operierenden deutschen Elektrokonzern. »Wobei Direktor nicht viel bedeutet, auch im Vorstadtkino gibt es einen Direktor«, erklärt er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Nach dem Studium in Padua und Ferrara zog er los. »Ich wollte die Welt kennenlernen.« Als 17-Jähriger trampte Giorgio Jellici bis Kopenhagen, schlief in Parks und einmal auf der Polizeistation – weil die Uniformierten so freundlich waren, dem jungen Mann eine Pritsche für die Nacht anzubieten. Nach dem Studium brach Giorgio Jellici erneut auf, gegen den Willen des Vaters, diesmal mit der Absicht, sich im Ausland ein eigenes Leben aufzubauen. 5000 Lire, umgerechnet 2,50 Euro, hatte er in der Tasche und landete zuerst in Dachau in einem Camp der amerikanischen Truppen. »Den Blaumann mit der Aufschrift ›US Army‹ habe ich lange aufbewahrt«, erzählt Jellici.
Inzwischen sind wir in Moena angekommen, dem Hauptort des Fassatales. Die Atmosphäre, die in Bozen – auch zwischenmenschlich – noch recht gewittrig war, hat sich inzwischen aufgehellt. Wir stehen vor einem öffentlichen Garten, die Sonne scheint, Jellici lächelt. Er hat mich auf das Schild an der Straße hingewiesen, über die wir ins Dorf gelangten. Sie heißt Via Riccardo Löwy. Jetzt lenkt Giorgio Jellici meine Schritte zu einer Tafel, die in Wort und Bild erklärt, wie Richard Löwy ins Fassatal kam. Unnötig zu erwähnen, dass sowohl diese Tafel als auch eine Dauerausstellung im Kulturzentrum von Moena – sie war in mehreren Städten zu sehen, etwa ein halbes Jahr in Venedig – ein Werk Giorgio Jellicis sind. »Ich war in Rom, im Kriegsarchiv in Wien, was für ein Durcheinander! Im Staatsarchiv in Prag haben sich die Beamten einen Tag lang vor mir versteckt. Erst als die Chefin erkannte, dass ich nicht aufgeben würde, konnte ich mit der Arbeit beginnen.« Giorgio Jellici zeigt jetzt auf die verblassten Schwarzweißfotos an der Schautafel. Dort sieht man einen jungen Offizier der k. u. k. Armee mit hochgestelltem Kragen und polierten Knöpfen an der Uniformjacke. Dunkler Wuschelkopf, die Oberlippe ziert ein Bartflaum, auf der Nase steckt eine randlose Brille: Es ist Richard Löwy. Kein arroganter Pinsel, der seine Leute schindet und säbelschwingend Befehle brüllt – eher gleicht der feingliedrige Offizier einem Intellektuellen, der seine Zeit am liebsten in einem Wiener Kaffeehaus verbringt. Auf weiteren Abbildungen sieht man Männer mit Arbeitsgeräten und Frauen in Kittelschürzen, daneben hat sich Oberleutnant Löwy hingepflanzt. »Er hat das halbe Dorf gerettet«, sagt Giorgio Jellici. Während des Ersten Weltkrieges als Chef der k. u. k. Bauleitung in Moena stationiert, standen unter dem Oberleutnant viele Frauen aus dem Dorf in Lohn und Brot, den Männern nützte er auf andere Weise. Weil er zu Recht hoffte, dass man ihn hier nicht vergessen habe, kehrte Löwy nach dem »Anschluss«, als in Österreich die Jagd auf die Juden eröffnet wurde, Hilfe suchend ins Fassatal zurück.
Löwy als Gefreiter
Wie viele Juden, die im Habsburgerreich Karriere machten, kam auch Richard Löwy aus dem Osten. Als er am 7. Dezember 1886 im böhmischen Zasmuky/Sasmuk geboren wurde, gab es dort eine blühende jüdische Gemeinde. Richards Vater, Karl Joachim, stammt aus Maschau, einer kleinen Gemeinde nordöstlich von Prag, unweit des berühmten Kurorts Karlsbad. Richards Vorfahren mütterlicherseits hatten sich im ebenfalls böhmischen Kolin, 15 Kilometer östlich von Zasmuky, niedergelassen. Seit dem 15. Jahrhundert waren Juden in Böhmen ansässig. Ende des 19. Jahrhunderts umfasste die Religionsgemeinschaft dort 100 000 Mitglieder. Durch den von Hitler entfachten Vernichtungsfuror leben heute nur noch etwa 6000 Juden in Tschechien.
Die Löwys sind eine wohlhabende Familie. Anfang des 20. Jahrhunderts ziehen sie nach Wien, ihr Quartier liegt im zweiten Stock eines eleganten Mietshauses in der Sechsschimmelgasse. Die Löwys sprechen deutsch und tschechisch, den Wohnzimmerschrank zieren Bücher von Kant, Hegel und Goethe – noch in seinen verzweifelten Bettelbriefen aus dem Gefängnis wird Richard Löwy Schiller zitieren. Der Heranwachsende besucht zuerst die Realschule und dann die Wiener Handelsakademie, wo er 1903 maturiert. Ein Foto zeigt ihn mit Spazierstock, Melone und Vatermörder im Kreis seiner Kameraden. Im Jahr darauf leistet er im Artillerieregiment Nummer 2 der Hauptstadt den Militärdienst als Offiziersanwärter auf eigene Spesen ab. Offiziersanwärter dürfen damals in einem für sie reservierten Bereich der Offiziersmensa essen, im Gegensatz zu den einfachen Soldaten gelten sie als satisfaktionsfähig. 1908 schließt Richard die Ausbildung als Korporal ab. Im Dienstzeugnis wird festgehalten, dass der Aspirant bezüglich seines »Verhaltens an der Front« weiterer »Anreize« bedürfe, mit anderen Worten: Ihm fehlte die Mordlust. Nachdem sich Löwy als 23-Jähriger an der Bauingenieurschule der Technischen Universität Wien inskribiert hat, wird er 1911 als Fortifikationsfähnrich Mitglied der k. u. k. Geniedirektion in Trient. Zwei Jahre später, nach dem Abschluss des Ingenieurstudiums, ernennt man Löwy zum Fortifikationsleutnant der Reserve. Dann bricht der Krieg aus, Richard Löwy steigt zum Kommandanten der Bauleitung von Moena auf. Fieberhaft errichten die Österreicher nun befestigte Stellungen und Schützengräben am nahen Pellegrinopass, wo Österreich an Italien grenzt. Als der südliche Nachbar zum Kriegsgegner wird, erklärt Löwy viele vor der Einberufung stehende Männer als unabkömmlich. Die Frauen können in einer Schneiderei sowie einer Wäscherei, die Löwy einrichtet, etwas Geld verdienen. Löwy ist in Moena so beliebt, dass ihn die Gemeinde 1916 zum Ehrenbürger erklärt. Als der Krieg für Österreich verloren ist, kehrt Richard Löwy nach Wien zurück. 1929 heiratet er die Wienerin Johanna Liebgold, genannt Hansi, eine Pharmazeutin, wie er jüdischen Glaubens. Im März 1938 bricht für Österreichs Juden die Katastrophe herein. Was tun?
Am 16. August 1938 verlassen Richard Löwy und seine Frau die Hauptstadt. Drei Tage später treffen sie in Moena ein. Obwohl das Ehepaar völlig mittellos ist, findet es eine Unterkunft und ein Auskommen im Dorf. Da die Lage im Heimatland nicht besser, sondern immer schlimmer wird, kommen 1939 auch Richards Schwester Martha, ihr Ehemann Hermann Riesenfeld sowie Löwys an Krebs leidende Mutter Hedwig ins Fassatal. Auf die Mildtätigkeit der Dorfbevölkerung angewiesen, versuchen die Flüchtlinge, sich irgendwie nützlich zu machen: Richard kann einige Pläne zeichnen, die Frauen nähen, geben den