Die Akte Hürtgenwald. Lutz Kreutzer
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Читать онлайн книгу Die Akte Hürtgenwald - Lutz Kreutzer страница 12
Straubinger schüttelte gelassen den Kopf. »Nein.«
Der Wolkenmaler betrachtete ihn und seinen Fuß mit fragendem Blick. Dann holte er weit aus, ließ den trockenen Haselnussstock niedersausen, sodass es krachte, als hätte er ihn gegen einen Panzer geschlagen. Prüfend starrte er Straubinger ins Gesicht, der immer noch keine Miene verzog.
»Eisenfuß«, murmelte der Alte. Skeptisch musterte er Straubinger von oben bis unten. »Du bist ein Mann mit Charakter.« Während er Straubinger verwirrt betrachtete, fasste er sich ans Kinn. »Komm, Eisenfuß!« Er stellte den Stock zur Seite und führte Straubinger in seine Hütte.
Überall standen große und kleine bemalte und unbemalte Leinwände. Die Bilder zeigten den Himmel, manchmal war er blau mit Schönwetterwolken, manchmal grau mit bedrohlichen Wolkentürmen, dann war der Himmel in frühmorgendliches Grün getaucht oder in vormittägliches Gelbgrün, immer waren Wolken zu sehen, mal weiße, dann gräulich-lilafarbene oder rötlich leuchtende. Einige Bilder zeigten die watteähnlichen Wolken des Kraftwerks vor einem satten Blau. Aber alle Bilder zeigten eben nur Himmel, keinen Horizont.
»Sie sind ein Meister der Wolken«, sagte Straubinger und presste anerkennend die Lippen zusammen. »Ist es immer derselbe Himmel, den Sie malen?«
Der Wolkenmaler nickte. »Immer derselbe. Immer der Himmel über dieser gottverfluchten Scholle«, sagte er leise, richtete den Blick nach oben, machte eine beschwörende Handbewegung und ging leicht in die Hocke. »Dieser Himmel hat alles Böse der Welt gesehen«, flüsterte er.
»Was … Was meinen Sie mit dem Bösen?«, fragte Straubinger gespannt.
»Krieg und Zerstörung. Hunger und Vertreibung. Mord und Totschlag«, zeterte er, während er einen Schritt vor die Tür machte.
»Und warum malen Sie ihn unentwegt, den Himmel? Ist das Böse auf die Dauer nicht lähmend?«
Der Alte hielt den Blick nach oben gerichtet und blinzelte in die Sonne, als suche er die Ewigkeit. »Komm, Eisenfuß, komm!« Dann zog er Straubinger hinterher. »Sieh hin«, sagte er. »Das Böse ist dort, überall. Und ich«, beschwor er und zeigte jetzt nach oben, »ich muss das Gute in meinem Himmel finden.«
Straubinger betrachtete die weißen Wolken und das kühle Blau. Sein Blick wanderte in das bärtige Gesicht des Alten, dessen Augen glühend auf seine Bestätigung warteten. Straubinger nickte. »Wie zeigt sich der Himmel heute?«
»Coelinblau, kalt wie Stahl, hart wie dein Fuß. Heute male ich ein neues Bild. Ich habe seit Tagen auf dieses Wetter gewartet.« Er machte sich an seiner Staffelei zu schaffen.
»Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich einen Namen?«
Verstört starrte er Straubinger an. »Natürlich hab ich einen Namen.«
»Wie darf ich Sie nennen?«, wollte Straubinger wissen.
»Nenn mich so wie alle. Nenn mich Wolkenmaler«, sagte er mit ernster Miene. »Namen sollten ja etwas über einen Menschen erzählen. Ich gebe jedem einen eigenen, eine treffende Bezeichnung. Ich bin Wolkenmaler, du bist Eisenfuß. Das sagt mehr aus als der Taufname, der uns in Unwissenheit als Kind gegeben wurde, ohne uns zu kennen.« Er schob den Haltebügel nach oben und klemmte eine leere Leinwand fest.
Straubinger beschloss, ihn fortan ebenfalls zu duzen. »Gut, du bist der Wolkenmaler.«
Er nickte.
»Ich habe Bilder wie diese heute schon mal gesehen. Im Kupferhof Blumenthal.«
Der Wolkenmaler zeigte keine Regung.
»Bei Gerhild Vandenberg. Kennst du sie?«, fragte Straubinger.
Der Alte sah zu Boden. Plötzlich schnellte er vor wie eine Krähe und keifte ihn an: »Du wirst ihr nichts tun!« Seine Augen schienen zu lodern.
Straubinger wich zurück. »Nein, nein, was sollte ich ihr tun?«
Der Wolkenmaler wühlte in einem Holzkasten mit Farben. Er holte drei Tuben hervor und quetschte je einen dicken Klecks auf eine Holzpalette. Dann nahm er einen breiten, schweren Pinsel, lud ihn mit den drei Farben auf und schlug ihn wild auf die Leinwand. Straubinger sah fasziniert zu, wie er eine Grundierung anlegte, die bereits einen weiten, kühlen Himmel in seinen Augen entstehen ließ.
»Sag mal, Wolkenmaler, was ist unter deinem Himmel?«
»Unter? Unter meinem Himmel?«
»Was ist das, was du nie malst?«
Der Wolkenmaler antwortete nicht.
»Was wäre auf einem Bild zu sehen, wenn du den Horizont malen würdest? Was würde ich dort erkennen?«
»Kann man nicht malen«, schnarrte er, sah ihn verschämt an und trippelte zurück in die Hütte, als müsse er ein Geheimnis beschützen.
»Ich will, dass du es für mich malst«, sagte Straubinger und stützte sich am Türsturz ab. »Ich will wissen, was dein Horizont zeigt.«
Der Wolkenmaler sah stoisch ins Leere. Er verzog keinen Muskel im Gesicht, sagte nichts und atmete schwer.
»Es wäre ein besonderes Bild.« Straubinger ließ nicht locker. »Was würde es zeigen?«
Der Wolkenmaler holte zwei Schnapsgläser und zeigte ihm eine klare Flasche mit einer braunen, leicht trüben Flüssigkeit. »Wolkenels« stand dort schwungvoll in Frakturschrift, ein hellblauer Himmel war auf das Etikett gemalt. Aus der Flasche ließ er je einen Schnaps in die Gläser fließen. »Trink!«
Straubinger nahm das Glas, roch daran und rümpfte die Nase. »Was ist das?« Das bitterstarke Aroma widerte ihn ein wenig an.
»Els. Aus Kräutern, die dir den Magen vergrätzen und ihn doch schützen vor all dem Unheil, das in dieser Luft schwebt.« Der Wolkenmaler hielt das Glas gegen den Himmel. »Das einzig Heilbringende hier in der Gegend!«, rief er. Dann forderte er Straubinger noch mal zum Trinken auf. »Weg damit!« In einem Zug kippte er den Schnaps in seinen Schlund.
Straubinger tat dasselbe. »Puh, ganz schön bitter. Was ist denn da drin?«, fragte er und verzog das Gesicht.
»Artemisia absinthium, Wermutkraut. Der Franzos’ macht seinen Absinth draus, der Italiener den Martini und der brave Eifler seinen Els. Und mein Els enthält außerdem Minze. Bau ich hier hinter der Hütte an. Gut bei Magenbeschwerden! Das macht aus ihm eine Medizin, und Medizin ist eben besonders bitter.«
Straubinger betrachtete den grünlichbraunen Schimmer am Rand des leeren Glases und schüttelte sich. »Wer denkt sich so was aus?«
»Mit Els hat früher manch wackerer Bauer die Verdauung seiner Kuh reguliert. Und was fürs Vieh gut ist, das kann dem Menschen nicht schaden.«
1956 – Montag, 21. Mai
Gressenicher Wald, 9.35 Uhr
– eine Viertelstunde vor dem Moment
Sie führte den Jungen